Ein Texte von Jocelina

Dieser Text soll einen kleinen Einblick in mein Leben gewähren. Er spiegelt jedoch nicht all meine Erfahrungen wider und kann aufgrund der Kürze auch in Bezug auf Parentifizierung und Adultifizierung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Ich konzentriere mich hier vor allem auf mein Zusammenleben mit meinem Vater. Es gäbe noch so viel mehr zu erzählen. Das hier ist ein Anfang…

 

Schon in der Grundschule bekam ich zu hören, dass ich doch so erwachsen und reif für mein Alter sei. In der 4. Klasse bezeichnete mich meine Grundschullehrerin sogar als frühreif und so bekam ich das Gelächter meiner Mitschüler:innen zu hören.

Manchmal fand ich es aber gar nicht schlecht, diese Bestätigung von Erwachsenen zu bekommen, denn damit war mein Umgang mit meinen Mitmenschen und meine Selbstständigkeit gemeint, die ich als normal empfand. Dass etwas in meinem Aufwachsen grundsätzlich anders lief als bei den anderen Kindern in meinem Alter, bekam ich aber trotzdem mit. Meine Mitschüler:innen wurden in die Schule gebracht, während ich mich seit der Grundschule jeden Morgen selbst herrichtete, mir etwas zu Essen vorbereitete und zur Schule ging. Briefe und Dokumente meiner Schule füllte ich oft selbst für meinen Vater aus und ließ ihn bloß unterschreiben. Ich wurde schon früh losgeschickt, um Einkäufe zu erledigen und wenn ich krank war, rief ich selbst bei meiner Kinderärztin an.

Die ersten zehn Jahre meines Lebens war meine Mutter alkoholkrank und wegen Aufenthalten in Kliniken immer wieder abwesend. Also wuchs ich ab der 2. Klasse bis zu meinem 15. Lebensjahr bei meinem Vater auf. „Single-Dad“ würde man heute vermutlich sagen, aber diesen coolen Begriff verbinde ich nicht mit meiner Kindheit. Wie so einige junge Menschen, migrierte mein Vater in den 1990er Jahren aus Gambia nach Deutschland, in der Hoffnung hier ein Studium beginnen zu können. Aber wie so vielen migrierten Menschen wurde ihm dieser Wunsch verwehrt, da sein Schulabschluss, trotz jahrelanger Erfahrung und Qualifikation im Beruf, nicht anerkannt wurde. Für unser gesamtes Umfeld und seine Familie waren wir eine Besonderheit: Ein Schwarzer Vater, der seine afrodeutsche Tochter im Süddeutschland der 2000er Jahre allein großzog. Wir lebten in einer 2-Zimmer Wohnung. Die meiste Zeit war er arbeitslos und kämpfte darum, einen langfristigen Job zu bekommen, um unsere Lebenssituation zu verbessern.

Im Elternhaus meiner besten Freundin gab es so gut wie alles, das ich nicht hatte: verheiratete Eltern, die Jobs hatten, regelmäßiges Mittagessen, sobald man nach Hause kam, jährliche Familienurlaube aber auch so etwas wie Hausarrest. Die Rollen und Aufgaben, die meine Freundin und ihre Eltern einnahmen, waren klar. Auch die finanziellen Mittel und damit die Möglichkeiten, die den meisten Familien um uns herum zur Verfügung standen, waren viel höher, als das was wir zum Leben hatten.

Die längste Zeit meiner Kindheit hatte ich das alles nicht und obwohl diese von Strenge geprägt war, gab es keine Struktur, keinen Tagesablauf, den mein Vater für mich plante. Zum einen beschäftigte ich mich in meinem Alltag selbst und kümmerte mich auch viel um mich selbst, zum anderen begegnete mir früh die Erwartung, selbständig zu sein und Verantwortung für den Haushalt zu übernehmen. Zudem kam dann auch noch das Verhalten mir gegenüber von Lehrer:innen und anderen Erwachsenen hinzu, die mich als „reif“ wahrnahmen. Aber woran lag das?

Mittlerweile weiß ich wie man dieses Phänomen bezeichnet. Zwei Worte, die verwoben miteinander Teile dessen beschreiben, das ich erlebt hatte. Pa-ren-ti-fi-zier-ung und A-dul-ti-fi-zier-ung.

 

Parent- WAS?

Parentifizierung (engl. Parentification) beschreibt das Phänomen, bei dem Kinder schneller erwachsen werden und Erwachsenen-/Eltern-ähnliche Rollen einnehmen müssen. Diese können aus dem Führen des Haushaltes, physischer, emotionaler und finanzieller Unterstützung der Eltern bestehen und tauschen praktisch die Beziehung zwischen Eltern und Kind um.[1]

Der Begriff Adultifizierung (engl.: Adultification) hat Überschneidungen zum Begriff Parentifizierung, aber beschreibt vor allem, dass Kinder und Jugendliche als erwachsener und reifer wahrgenommen und deshalb auch eher als „erwachsen“ behandelt werden. Schwarze Kinder und Kinder of Color sind ganz besonders von diesen beiden Phänomenen betroffen. Sie gehen Hand in Hand mit Rassismus, Sexismus und Armut.

Studien fanden heraus, dass Erwachsene, Schwarze Mädchen im Alter von 5 Jahren für weniger unschuldig, schutz- und sorgebedürftig halten und weniger Empathie für sie haben als für gleichaltrige weiße Mädchen. Diese Studien besagen auch, dass adultifizierte Kinder strengere Behandlung, Bestrafung und höheren Erwartungen in der Schule ausgesetzt sind. Negative Stereotype über Schwarze Frauen würden auf Schwarze Mädchen projiziert werden. Erwachsene nähmen diese also eher als wütend, aggressiv und hypersexuell wahr. Dadurch bestehe eine frühe Sexualisierung von Schwarzen Kindern.[2] Vor allem aus dem US-Amerikanischen Kontext kennen wir die Nachrichten über rassistische Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Kindern und Jugendlichen, die als potenzielle Gefahr wahrgenommen werden und oft Polizeigewalt erfahren. Hiervon sind oft Schwarze Jungen betroffen.[3]

Parentifizierung ist etwas, das direkt zwischen Eltern und Kind stattfindet. Adultifizierung kann von Eltern ausgehen oder auch von anderen Erwachsenen, abseits der Familie. In meinem Fall ist die Beziehung zu meinem Vater von einem Gemisch der beiden Phänomene geprägt.

 

Warum ich schneller erwachsen werden musste

Die Gründe für Parentifizierung & Adultifizierung sind vielseitig. Sie können z.B. im Aufwachsen und der Erziehung der Eltern liegen, in kulturellen Normen oder einer bestimmten Auffassung über Geschlechterrollen. Auch Scheidungen, elterliche Konflikte oder das Aufwachsen in alleinerziehenden Haushalten können Ursprung sein. In Haushalten, in denen Familienmitglieder beispielsweise eine Behinderung oder chronische Krankheit haben, oder eine Drogensucht oder mentale Erkrankung der Eltern vorliegt, kann es ebenfalls zu einer Parentifizierung der Kinder kommen.[4] Immer dann also, wenn Kinder die Verantwortung der Eltern übernehmen müssen.[5]

Mit 8 Jahren zog ich zu meinem Vater und war plötzlich mit seinen Vorstellungen von Verantwortung und Selbstständigkeit konfrontiert. Adultifizierend daran war, dass kindliche Spielereien und Sorglosigkeiten nicht in seine Vorstellungen passten. Rückblickend erkenne ich, dass seine Erwartungen an mich höher waren als die, anderer Eltern an ihre Kinder im gleichen Alter. Aber auch äußere Strukturen haben damit zu tun. Mein Vater kam aus einer großen Familie, in der die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau eindeutig war. Er als ältester Sohn der Familie unterlag der Erwartung seine Eltern und Geschwister unterstützen zu können.  Plötzlich musste er zwei Elternteile für mich ersetzen, während er versuchte sich und mich in einer weißen Mehrheitsgesellschaft über Wasser zu halten. Er war gefangen in einem System, dass ihn strukturell benachteiligte und nicht die Aufstiegschancen gewährte, die er sich erhofft hatte. Deshalb zählten meine schulischen Leistungen umso mehr. Wie so viele Kinder von Schwarzen Eltern und Eltern of Color hörte ich immer wieder, dass ich mich mindestens doppelt so sehr anstrengen müsste wie meine weißen Mitschüler:innen. Damit ich es mal besser habe, hieß es. Ich sollte also selbstständig sein und alles um mich herum kritisch hinterfragen, aber gehorchen, wenn es von mir verlangt wurde. Psycholog:innen bezeichnen das als die doppelt bindende Art von Parentifizierung. Von dem Kind werde erwartet, dass es gehorsam sei, sich aber gleichzeitig in der vermeintlich überlegenen oder höheren Position wiederfindet, in die es hineingeworfen wird.[6]

Es zeigt sich, Parentifizierung & Adultifizierung sind komplexe Phänomene. Das Verständnis um diese Gegebenheiten sollte Eltern nicht von ihrer Verantwortung entbinden. Denn auch toxisches Verhalten der Eltern kann ein Grund für Parentifizierung sein. Mit meinem Beitrag möchte ich den Blick aber auch auf die unterliegenden Strukturen lenken. Die Überlappung von unterschiedlichen Ungleichheitssystemen: Armut, Rassismus und der Struggle mit der eigenen auch mentalen Gesundheit sind Themen, die mich mein ganzes Leben lang begleiten. Diese waren meiner Familie auferlegt. Aber meine Geschichte ist nur eine von vielen. Parentifizierung kann unterschiedlichste Formen annehmen. Psycholog:innen und Sozialwissenschaftler:innen untersuchen erst seit neuestem, wie sich Parentifizierung in Familien mit Fluchterfahrung äußert. Vor allem wenn es Geschwister gibt, übernehmen die Ältesten eine „Dritte Elternrolle“ und in Familien, in denen die Eltern kein Deutsch sprechen, werden Übersetzungsarbeiten, Telefonate und Terminfindungen von den Kindern übernommen.[7]

 

Was bleibt…

Man könnte meinen, dass einige der Auswirkungen von Parentifizierung hilfreich sind. Dass sich adultifizierte Kinder früh gut mit bürokratischen Prozessen, Ämtern und Anträgen auskennen und in vielen Bereichen des Lebens sehr selbständig werden, ist sicherlich von Vorteil. Dennoch ist es wichtig zu hinterfragen, wie diese Frühreife entstanden ist. Ich war gezwungen schneller selbstständig zu werden, weil meine Eltern mir trotz aller Anstrengung nicht immer die Fürsorge und emotionale Stabilität geben konnten, die ich gebraucht hätte und Armut und Benachteiligung  Barrieren für uns darstellten.

 

Ich versuchte den Erwartungen von außen gerecht zu werden, lernte deshalb aber schlecht, auf meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu hören. Ich entwickelte in der Kindheit eine Tendenz dazu, meinen eigenen Wert daran festzumachen, ob ich diesen Erwartungen gerecht wurde. Innerlich war ich meist angespannt. Ich wollte immer funktionieren. Rückblickend erkenne ich was das für eine emotionale und psychische Belastung war. Es gibt Verhaltensweisen, die mich bis heute begleiten, die ich immer noch aufarbeiten und verlernen möchte. Zu Beginn meiner 20er suchte ich dafür therapeutische Hilfe. Erst in den Gesprächen mit meiner Therapeutin realisierte ich, wie sehr unsere Lebensumstände meinen Vater belasteten. Auch wenn ich das schon als Kind spürte, hatte ich dafür noch keine Worte.

Heute habe ich sie. Sie helfen mir zu verstehen, dass das keine Erfahrung ist, die ich allein machte, sondern eine, die ich mit vielen Anderen teile. Die Frage nach den Gründen für Parentifizierung ist keine einfache, aber eins ist klar: Ungleichheitssysteme wie Armut und Rassismus spielen dabei eine wichtige Rolle. Diese dahinter liegenden Strukturen, die Kindern und Eltern auferlegt werden, haben einen direkten Effekt auf das gesamte Leben der betroffenen Menschen. Sie machen die Last für manche Familien größer. Dass ich heute Worte gefunden habe und mich mit anderen Betroffenen austauschen kann, die ähnliches und doch ganz anderes erfahren haben, hilft mir auch, eigene Verhaltensweisen zu hinterfragen.

 

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[1] bashiratoladele.medium.com/13-going-on-30-the-parentification-of-black-girls-3b9058c54df8).

[2]www.law.georgetown.edu/news/research-confirms-that-black-girls-feel-the-sting-of-adultification-bias-identified-in-earlier-georgetown-law-study/

[3] www.apa.org/news/press/releases/2014/03/black-boys-older

[4] msp.edu/psychology-career-motivation-parentified-child/

[5] journeyhomeyoungadult.com/blog/adultification-the-effects-of-kids-raising-their-parents-and-siblings/

[6] Boszormenyi-Nagy, I., & Spark, G. M. (1973). Invisible loyalties: Reciprocity in intergenerational family therapy. NY: Harper & Row. S. 164ff. In: msp.edu/psychology-career-motivation-parentified-child/

[7] www.researchgate.net/publication/318508047_Parentifizierung_-_eine_Anwendung_im_Kontext_von_Migration_und_Fluchtwww.researchgate.net/publication/318508047_Parentifizierung_-_eine_Anwendung_im_Kontext_von_Migration_und_Flucht