In den letzten Monaten ist mir immer wieder aufgefallen, dass sich viele mediale Berichte um den Täter drehen. Konsequente Berichterstattung über den Prozess ist außerhalb der regionalen Presse zudem nicht oft zu finden. Um mir vor der Urteilsverkündung ein eigenes Bild vom Prozess zu machen und den Plädoyers und Schlussvorträgen der Nebenklage zuzuhören, habe ich mich am 8. Dezember auf den Weg zum Landgericht Magdeburg gemacht.

 

Eindrücke bei der Ankunft

 

Morgens um 8 Uhr auf der Autobahn: Die Wintersonne geht langsam auf, wir fahren nach Magdeburg rein. Wie schon bei meinem Besuch beim NSU-Prozess im Dezember 2017 überkommt mich eine leichte Anspannung, als wir ankommen. Die Straßen sind (wohl auch Corona-bedingt) eher leer. Vor dem Landgericht stehen schon Hamburger Gitter und Sicherheitspersonal der Justiz bereit, um den Einlass zum Prozess zu überwachen.

Dem Landgericht scheint viel daran zu liegen, einen professionellen und abgesicherten Eindruck zu machen: doppelte Sicherheitskontrolle inklusive abtasten, bewaffnete und vermummte Spezialkräfte der Justiz vor und im Gerichtssaal. Der Angeklagte wird so bewacht reingeführt, als könnte er jeden Moment aufspringen und erneut seiner mörderischen Ideologie freien Lauf lassen. Auf mich wirkt es eher so, als sollte das Hochsicherheitsklima vom Versagen der Behörden im Vorfeld, während und im Nachgang des Attentats ablenken.

Es ist der letzte Tag, an dem die Nebenkläger*innen und ihre Vertreter*innen vortragen. Schon vorher habe ich Überlebende des Anschlags auf die Synagoge auf Veranstaltungen und Demos erlebt. Die Stärke der öffentlichen Auftritte und die Art und Weise, wie der Anschlag und der Prozess immer wieder im politischen Kontext der politischen Entwicklungen in Deutschland 2019/20 verortet werden, haben mich immer wieder beeindruckt.

 

 

Schlussvorträge der Nebenklage

 

Auch an diesem Tag erhoben viele Nebenkläger*innen ihre Stimme, und machten den politischen Charakter des Prozesses deutlich.

Sie benennen das Versagen der Polizei im Vorfeld, die nicht in der Lage war die Synagoge zu beschützen – lediglich die stabile Holztür und das besonnene Verhalten der Überlebenden haben für deren Sicherheit gesorgt. „Am 9. Oktober hatte ich keine Angst, weil die Gemeinde in Halle füreinander da war. Aber im Prozess habe ich Angst bekommen,“ sagt zum Beispiel Talya Feldmann.

Die Nebenkläger*innen beschreiben die Enttäuschung und Wut über die nachträglichen Ermittlungen, z.B. des BKA. Kritisiert wurde unter anderem, dass unerfahrene Mitarbeiter*innen auf den Fall angesetzt wurden und der Fall für die Behörde offensichtlich keine hohe Priorität hatte. Außerdem hätten Beamte sich auf der Aussage ausgeruht, dass sie lediglich Befehle befolgt hätten. „Den deutschen Institutionen sollte dies Grund zur Scham sein,“ wird gesagt.

Zudem beschreiben die Überlebenden des Angriffs auf die Synagoge, wie unerklärlich es für sie weiterhin ist, dass mehrere Angegriffene wie z.B. der Inhaber des Kiezdöners oder der Mann, den der Täter auf seiner Fluchtfahrt überfahren wollte, nicht als Betroffene anerkannt wurden. Immer wieder zeigen die Überlebenden die Verbindungen zwischen Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit in der Ideologie des Attentäters auf. Mich beeindruckt diese Solidarität, und dass die Nebenkläger*innen alle Betroffenen des Anschlags mitdenken und sich auf die subtilen Spaltungen durch die Justiz nicht einlassen.

Auf die Vorträge der Überlebenden aus der Synagoge folgten weitere, emotional aufwühlende Vorträge der Vertretungen der Überlebenden aus dem Kiezdöner in Halle. Besonders eindrücklich war für mich der Brief, den der Anwalt von Konrad R. verlesen hat. Konrad R. konnte sich auf der Toilette des Kiezdöners verstecken und überlebte dort den Anschlag. Von der Polizei wurde er schon während seiner Notrufe, aber auch im Nachhinein missachtet und nicht ernst genommen. Als er sich versteckte und deshalb am Telefon flüsterte, habe der Beamte am anderen Ende gesagt, er solle doch lauter sprechen, und am Ende „Auf Wiederhören.“

Die Erfahrung, dass die Polizei nicht für sie da war, eint alle Nebenkläger*innen, die an diesem Tag im Gerichtssaal selbst sprechen. Dies eint sie auch mit so vielen anderen Überlebenden und Hinterbliebenen anderer Anschläge aus letzter Zeit. Sowohl beim NSU-Komplex als auch dem späteren Anschlag in Hanau nahm die Polizei die Betroffenen nicht ernst, sondern warf ihnen teilweise sogar vor, selbst schuld zu sein.

 

 

Was bleibt nach dem Prozess?

 

Die Urteilsverkündung am 21. Dezember 2020 wird aus Sicht der Strafjustiz einen Schlussstrich unter den Anschlag setzen. Für viele der Nebenkläger*innen ist die Arbeit damit jedoch nicht vorbei – im Gegenteil. „Schweigen ist keine Lösung“, sagte eine Nebenklägerin in ihren Schlussworten.

Ein weiterer Nebenklagevertreter bezog sich in seinem Plädoyer auf den Schwur von Buchenwald vom 19. April 1945: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“ Genau darum wird es in Zukunft gehen, nämlich die gesellschaftlichen Bedingungen, die solche Taten ermöglichen, anzugehen. Dies kann uns nur durch Solidarität und gemeinschaftliches Vorgehen gelingen.

Wie eine Nebenklägerin beschrieb, können wir unsere Hoffnung nicht in den deutschen Staat setzen, da er nur den Status quo aufrecht erhält. Ihre Worte und auch der gesamte Prozessverlauf haben auch mir gezeigt: wir können uns nicht darauf verlassen, dass der Staat uns schützen wird. Bleibt uns also nichts anderes, als uns selbst zu organisieren und gegenseitig auf uns aufzupassen.

Wir dürfen den ständigen Versuchen der Spaltung nicht nachgeben, sondern müssen die vermeintlichen Grenzen von Herkunft, Glaube, Kultur etc. überwinden. Außerdem müssen wir die grundlegenden Verhältnisse der Gesellschaft angehen, die diese Spaltungen produzieren: Ausbeutung und Unterdrückung müssen in ihrer Ganzheit angegriffen werden. Nur so können wir dem Faschismus seinen Nährboden entziehen!

 

 
Bild: privat