von Adalet Müzeyyen (Instagram: missada1et)

Aufstehen, fertig machen, sich anschließend selbst vorm Spiegel fertig machen, zur Arbeit gehen, zwischendurch etwas Selbsthass, nach Hause kommen und wieder von vorne. So sieht der Alltag von vielen von uns aus.

Doch wen meine ich in diesem Beitrag mit “uns“?

An wen richtet sich dieser Text? Bevor ich in die Thematik einsteige, erst einmal kurz zu  mir:

Hi,

ich heiße Adalet Müzeyyen, studiere Psychologie, bin als Aktivistin und Künstlerin tätig und stamme aus einer türkeistämmigen, alevitischen Familie aus Berlin.

Die Migrationsgeschichte meiner Vorfahren machte mich schon früh auf die Problematiken in dieser Gesellschaft aufmerksam. Diskriminierungsformen, wie Rassismus, Queerfeindlichkeit, Sexismus, Ableismus, Kapitalismus sind gefühlt ein Muss in diesem Land. Fast wie ein ständiger Wegbegleiter.

Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen trete ich seit einigen Jahren als Theater- und Poetry Performerin auf. In meinen Texten und Aufführungen thematisiere ich einige der oben genannten Thematiken. Auch, was bedeutet, eine queere Person mit Migrationsgeschichte zu sein und permanent zwischen den Stühlen zu sitzen.

Rassismus und Mental Health

Aber nun zum Thema dieses Beitrages: Genuss.

Ich sehe an dieser Stelle einen besonderen Zusammenhang zu unseren Rassismuserfahrungen und schreibe deshalb diesen Text spezifisch für uns.

Die Tatsache, jeden Tag in dieser Identität zu leben und mit den Reaktionen und Diskriminierungen der Mitmenschen konfrontiert zu werden, verschlechtert unsere Lebensqualität und erschwert die eigene mentale Gesundheit. So hat bspw. Ethnologin und Soziologin Amina Trevisan in der Schweiz erforscht, dass Menschen mit einer Migrationsgeschichte häufiger an Depressionen erkranken. Besonders Frauen* of Color sind betroffen. Denn diese werden aufgrund ihres Geschlechtes und ihrer Herkunft diskriminiert. Sie sind also von intersektioneller Diskriminierung betroffen.

Queerness und Migration

Ähnlich sieht es bei queeren Migrant*innen aus, die schon ohnehin in der weißen Mehrheitsgesellschaft angefeindet und ausgeschlossen werden und zusätzlich aufgrund der queeren Identität in der migrantischen Community auf Diskriminierung stoßen können. Allerdings muss hier klar und deutlich betitelt werden:

Nicht nur Migrant*innen können queerfeindlich sein, sondern auch weiße Personen! Aussagen wie: “migrantische Familien sind weniger tolerant als weiße Familien” sind und bleiben rassistisch. Stichwort White Saviorism. Denn die vermeintliche Queerfeindlichkeit von “bösen Ausländern” wird gerne genutzt, um gegen migrantische Personengruppen zu hetzen und Rassismus zu legitimieren. Letztlich ist dies ein Fundament für rechte Gewalt.

 

Queer
Personen, die nicht heterosexuell und/oder cis sind; cis = Personen, die sich mit dem angeborenen Geschlecht identifzieren
Genuss und Heilung

Arbeiten, statt genießen: Wir sind es so gewohnt, klein gehalten und erniedrigt zu werden, dass Überarbeitung häufig eine Bewältigungsstrategie ist.

„Einfach das Doppelte leisten, um halbwegs dort zu sein, wo die weiße Mehrheit steht. Vielleicht sehen sie dann meinen Wert. Vielleicht verschwindet meine Depression, wenn ich einfach ganz viel arbeite“.

Doch weder erkennt die Mehrheitsgesellschaft bei Überarbeitung deinen Wert, noch hilfst du deiner mentalen Gesundheit damit. Du erreichst sogar genau das Gegenteil.

Wir müssen uns eine Tatsache eingestehen, so ohnmächtig sie auch macht:  Die rassistische Hierarchie und Struktur ist dermaßen Realität, dass wir wahrscheinlich nie dort stehen werden, wo weiße, heteronormative, privilegierte Personen stehen.

Wir werden nie sie sein. Die Abstände zwischen uns und denen werden sich allerdings verändern, nämlich im Positiven. Dafür sorgen wir jeden Tag, mit unserem Sein, mit unserer Sichtbarkeit, unserer Arbeit, unserem politischen Aktivismus.

Deshalb schreibe ich diesen Artikel, denn wir sorgen für ein Morgen und genau deshalb müssen wir unsere Handlungen präzise und strategisch wählen.

In diesem Sinne finde ich, sollten wir mehr lernen zu genießen.

Mal stehen bleiben, den Moment wahrnehmen, einatmen und sich umschauen:

Wo bin ich gerade? Wo stehe ich?

Nicht nur hier, sondern wo stehe ich im Leben?

Was habe ich erreicht?

Habe ich Liebe um mich?

Was brauche ich? Habe ich, was ich brauche? Wo kann ich es mir wie holen?

So schwer es auch ist, sich (ab und zu) in einem langsameren Tempo zu bewegen und es mit Genuss zu versuchen, so sehr sind wir es aber auch wert.

Wir werden auf der Wohnungssuche aufgrund unseres Namens abgewiesen. Einige von uns dürfen ihren Wunschberuf nicht ausführen, weil sie ein Kopftuch tragen. Wir stehen oft inmitten von Identitätskonflikten, weil wir hier „ausländisch“ und im Heimatland „deutsch“ sind. Entweder zu viel oder zu wenig, aber nie genug. Wir haben nicht selten weniger finanzielle Ressourcen, weil Menschen unseren Fähigkeiten nicht trauen und uns deshalb nicht einstellen. Und das alles führt zu einer mentalen Überlastungssituation, die nicht aufhört, sondern permanent und ungefragt weitergeht. Sei es in Form von Blicken, Kommentaren, Anfeindungen.

Und genau deshalb sollten wir uns mehr Zeit für selfcare und quality time nehmen, weil wir diese verdienen und brauchen. Denn wir sind diesem Hass und somit den Stresssituationen leider ausgesetzt und brauchen einen emotionalen Ausgleich. Wir brauchen ebenso bzw. umso mehr positive Erlebnisse, um u.a. wieder Vertrauen in Menschen entwickeln und aufbauen zu können. Denn seien wir ehrlich: Haben wir nicht alle immer wieder diesen Moment, in dem wir nach einer diskriminierenden Situation denken: „Alle Menschen sind schlecht“? Oder in denen wir das Gefühl bekommen, alleine zu sein und keine Liebe zu verdienen? Daher sind wir es uns selbst schuldig, uns genau das Gegenteil zu beweisen und in genussvolle Momente abzutauchen, uns zu zeigen, dass wir liebenswert sind, es verdienen Heilung zu durchleben und Menschen zu haben, die einen lieben, wie man ist.

Doch du stellst dir vielleicht an dieser Stelle die Frage: “Ok, aber was genau kann ich machen?”

Well, das kann ich dir leider so nicht beantworten! So sehr ich es mir wünschte, eine Checkliste abzugeben, die uns allen, als migrantische Community, als Queers hilft, so realistisch müssen wir bleiben und uns bewusst machen:

Zwar verbinden uns unsere jeweiligen Migrationsgeschichten, allerdings sind wir auch alle nur Menschen und das heißt, wir sind unterschiedlich und haben unterschiedliche Bedürfnisse. Daher kann ich nur mitgeben, dass es helfen kann, die Augen mal zu schließen und zu fühlen, wo die eigenen Bedürfnisse liegen.

„Dışarı bakan göz uyur, içeri bakan göz uyanır“.

Krisenberatung:

Wie im Text beschrieben, sind insbesondere Frauen* of Color betroffen. Um dem entgegenzuwirken, gibt es u.a. Krisenhotlines, spezifisch für Frauen* mit einer Migrationsgeschichte. Einige dieser Krisenberatungen sind unten angegeben. Auch mit dem Schwerpunkt für queere Frauen*, Personen. Bitte nutze diese gerne bei Bedarf.

Quellen:

Thieme E-Books & E-Journals –

Migration und Depression: Wenn die neue Heimat krank macht | Beobachter

© Nat Gass