Ich bin mit Wut geboren.

 

Ich erinnere mich an eine Zeit im Kindergarten, in der ich meine Mutter angebettelt habe, mir die Haare blond zu färben. “Warum?” hat sie mich gefragt. “Meine Barbies sind blond”, betonte ich. Wenn ich mir einen Disney-Film zum Anschauen aussuchen darf, werden es immer Filme mit blonden Protagonistinnen. Ich hasse meine braunen Haare. Ich bin wütend auf meine Eltern, dass ich keine blauen Augen habe. Ich bin wütend, dass mein Name von fast keinen Pädagog*innen richtig ausgesprochen wird.

 

In der Grundschule darf ich bei einer Aufführung nicht die Elfe spielen. Ich darf ein langweiliger Mensch bleiben. Ich, Mohamed, Iman und Ali dürfen Menschen bleiben, während alle anderen Mädchen Elfen sind und alle anderen Jungs Drachen. Nach der Aufführung kriegen alle Elfen Blumen. Meine Augen halten Ausschau nach meiner Mutter im Publikum. Sie ist nicht gekommen. Sie arbeitet als Putzkraft für einen Ein-Euro-Pro-Stunde-Lohn. Wo mein Vater ist, weiß ich nicht — ihn habe ich auch nicht erwartet. Ich bin wütend, dass ich keine Blumen bekommen habe. Ich bin wütend, dass meine Mama nicht da war. Ich bin wütend, dass meine Mathe-Lehrerin nach 4 Jahren immer noch Dirän zu mir sagt. Ansprechen tue ich das alles nie.

 

Auf der Oberschule wird die Wut leiser und mein türkisch schlechter. Damals hatte ich noch keine Erklärung dafür, aber ich wurde wohl zur Mustermigrantin. Gute Noten, gutes Deutsch – eine Türkin die nicht muslimisch ist, sticht anscheinend raus. Erst versetzungsgefährdet, dann Klassensprecherin und plötzlich auch Scheidungskind. Es gibt keinen Platz mehr für meine Wut, ich habe kein Recht darauf — nicht, wenn ich jeden Tag auf meine wütende Mutter oder auf meinen wütenden Vater treffe. Und mittendrin bin ich Beamtin, die nach acht Stunden Schule fast zwei Stunden damit verbringt, Jobcenter-Briefe zu dekodieren und Antworten zu brainstormen, obwohl ich keine Ahnung habe. Mir wurde nie erklärt, was eine Bedarfsgemeinschaft ist und wie man Widerspruch einlegt. Ich war gerade dabei zu lernen, wie man überhaupt eine Bewerbung fürs Sozialpraktikum in der 9. Klasse schreibt. Ich bin wütend, dass ich mir damals nie Hilfe gesucht habe. Ich bin wütend, dass meine Eltern mir diese Verantwortung gegeben haben. Ich konnte nie in Ruhe Kind sein.

 

Als Erwachsene läuft meine Wut wie ein Schatten hinter mir her. Zu lange habe ich sie versucht zu unterdrücken, zu lange versucht sie im Zaum zu halten. Manchmal fällt es mir leichter, manchmal ist es unmöglich, still zu bleiben. Ich bin wütend, dass ich vor Bewerbungen gucken muss, dass ich nicht der “Token” in der Firma werde und immer noch erklären muss, wie mein Name ausgesprochen wird. Wenigstens ansprechen tue ich es jetzt.

 

Aber am meisten wütend machen mich in meinen Zwanzigern meine Eltern. Ich bin enttäuscht, erschöpft und ausgelaugt (alles andere Arten von Wut), ihnen immer wieder erklären zu müssen, wie ich mein Leben lebe. Ich bin dankbar und weiß es zu schätzen, wie viel sie für mich opfern mussten. Ich habe zu viel Zeit damit verbracht mein Leben für sie zu leben. Ich habe es satt, wegen meinen Eltern zur Therapie gehen zu müssen und bin wütend, dass ich mich geschämt habe, meinem Vater davon zu erzählen. Ich bin so wütend, dass all die Traumata, die sowohl meine Mutter, als auch mein Vater durchgemacht haben, auf mich und meinen Bruder projiziert und weitergegeben wurden. Angst vor Briefen, Panikattacken bei Amtsbesuchen, Geldnot, eine verschwommene Selbstwahrnehmung, internalisierter Sexismus, Identitätskrise — alles macht mich wütend.

 

“Das, was dein Vater durchgemacht hat, erklärt sein Verhalten, aber es entschuldigt es nicht”, hat meine Therapeutin zu mir gesagt. Es ist mein neues Mantra, wenn ich mich mit ihm treffe und er mir sagt, dass er mit meinem Bruder leichter über Dinge sprechen kann, weil er ein Junge ist. Er betitelt sich selbst als Sozialist, Feminist und Kommunist. Innerlich weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Am Ende des Tages ist es meistens wütendes Weinen. Und wenn mein jüngerer Bruder meine Mutter oder mich in der Küche anschreit, merke ich immer mehr, wie sehr er zu unserem Vater wird und wie ich mehr zu meiner Mutter werde. Das macht mich traurig.

 

Ich denke oft darüber nach, wie lange ich diese Wut mit mir mitschleppen werde und ob sie jemals weniger wird. “Wenn dein Vater stirbt”, sagt meine Mutter, als ich sie nach einem erneuten Treffen mit meinem Vater darauf anspreche. “Wenn mein Vater stirbt”, stimme ich ihr mit leiser Stimme zu. “Wenn du endlich zuhause ausziehst”, sagt meine beste Freundin. Auch hier stimme ich ihr nickend zu. “Wenn du selbst Mutter wirst”, sagt mein Verlobter. Wenn ich an die Zukunft denke, ist die Wut nicht mehr so stark zu spüren. Stattdessen ist es die drohende Angst, die gleichen Fehler zu machen. Trotzdem drücke ich seine Hand. “Wenn wir Eltern werden, machen wir’s besser”, verspreche ich ihm und mir selbst.

 

Ich weiß, dass ich das Rad nicht neu erfinden kann, dass systematische Strukturen nicht von heute auf morgen zerstört werden. Ich werde mich nie zugehörig fühlen, wie fast alle meine Freunde mit Migrationshintergrund. Ich weiß, wie Viele meine Wut teilen und das ist ein Trostpflaster. Mein einziger Wunsch ist es, meiner Wut den Raum zu geben, den er verdient hat, denn den hat er verdient.

 

Ich bin mit Wut geboren und ich werde mit Wut sterben.

© privat