Am 20. Oktober besuchte unser Redaktionsmitglied und Fotojournalist Sam Youssef vor dem Brandenburger Tor eine Solidaritätsdemonstration für die radikaldemokratischen Proteste im Libanon, die seit einigen Wochen massenhaft im ganzen Land stattfinden. Die Losung der Proteste ist die alte Parole aus dem Arabischen Frühling von 2011: „Alle heißt alle!“, die gesamte Regierung soll sich zum Teufel scheren. Zwar wurde die Hauptforderung der Demonstranten – der Rücktritt der Regierung von Saad Heiri – vor fast zwei Wochen schon erfüllt, die Proteste gehen jedoch uneingeschränkt weiter. Hier geht’s zu Sams Fotoreport.

Die Proteste im Libanon werden oft von Frauen organisiert und getragen. Jenseits alter religiöser, politischer und geschlechtlicher Ordnungen ist der Widerstand feministisch und radikaldemokratisch geprägt.

Überall finden sich queere Aktivist*innen in der Bewegung, auch im Libanon selber. Die Offenheit für alle sexuelle Orientierungen sind ein Merkmal der diversen Proteste.

Die Wut richtet sich gegen das überkommene System der Klientelwirtschaft, in der sich die religiös-politischen Fraktionen der Regierung den Reichtum des Landes untereinander aufteilen, die Wirtschaft kontrollieren und die Bevölkerung ausplündern. Das System, nach dem der Präsident christlicher Maronit sein muss, der Premieminister islamischer Sunnit, der Parlamentspräsident von der schiitischen Hizbollah usw. spaltet die Gesellschaft seit Jahrzehnten.

“Wir wollen unser Geld zurück, eine der Hauptforderung der Proteste, richtet sich direkt gegen alle Fraktionen im politischen Apparat. Sie sollen alle gehen, egal ob es Christen, Shiiten, Sunniten, die Hizbollah, die Drusen und wer sonst noch ist. Stattdessen wird eine Übergangsregierung jenseits der gesellschaftlichen Grenzen gefordert. Bereits jetzt hat diese Haltung dazu geführt, dass durch die Proteste die Leute überall hinreisen können.

Der Protest ist jung, aber er ist auch alt. Die Ausplünderung, Spaltung und Unterdrückung des Landes ist ein jahrzehntealtes Problem. Dagegen gehen die Menschen generationsübergreifend auf die Straße.

Auf den Demos im Libanon finden sich wie hier in Berlin viele Menschen aus anderen arabischen Ländern, etwa aus Syrien, Irak, Ägypten oder auch von der palästinensischen Minderheit. Die Proteste im Libanon weckt die alte Hoffnung eines demokratischen Frühlings in der ganzen arabischen Welt.

Ein typisches Merkmal der Proteste ist ihr beißender Humor, wie auf diesem Schild. „Ein Leben lang hat die libanesische Frau eine Kerze angezündet und zu Gott gebetet. Heute zündet sie Autoreifen an und flucht auf alles. Sei wie diese Frau.“ Schilder wie diese zeigen die Militanz und die strikte Ablehnung religiöser Bezugnahmen in der Revolution.

Musikzitate wie dieses von der libanesischen queeren Band Mashrou‘ Leila aus ihrem Song „Inni Mnih“ bilden den Soundtrack des Aufstandes: Brennt die Stadt nieder und baut eine würdevolle neue auf.

Eine Revolution der gesamten Bevölkerung ist die starke Message, die von Berlin nach Beirut geschickt wurde. #westandwithlibanon # revolution
Fotos: copyright privat Sam Youssef