Wutbrief

 

ICH SCHREIE UND SCHREIE UND SCHREIE UND AM ENDE KOMMT EIN SCHEISSDRECK AN.

WARUM BIN ICH IMMER DIEJENIGE, DIE SPRECHEN MUSS. DIE STARK SEIN MUSS.

ICH HASSE ES.

MEIN KÖRPER KOCHT.

MEIN BLUT POCHT.

MEINE AUGEN TRÄNEN.

HILFLOSIGKEIT STRÖMT DURCH MEINE ADERN.

ICH STEHE IN FLAMMEN.

 

 

Anstrengend.

 

ICH HASSE ES, DASS ICH HIER BIN UND MIR DEINEN SCHEISSDRECK ANHÖREN MUSS.

ICH HASSE ES, DASS ICH IMMER NETT SEIN MUSS. SYMPATHISCH. GUT KOMMUNIZIEREN MUSS, DAMIT IHR MICH HÖRT.

ICH HASSE ES, DASS MEINE GEFÜHLE, MEIN SCHMERZ, MEINE VERLETZUNG ALLEIN NICHT REICHT.

WARUM MUSS ICH IMMER IN DIALOG GEHEN?

WARUM MUSS ICH IMMER KOOPERATIV SEIN?

 

EINEN SCHEISSDRECK WERD ICH NOCH MACHEN.

WARUM KANN ICH NICHT DEN GANZEN TAG GLÄSER AN DIE WAND WERFEN UND SCHREIEN UND WEINEN UND SCHREIEN UND WEINEN?

 

ICH HASSE ES.

ICH HASSE ES.

ICH HASSE ES.

ICH WILL NICHT NETT SEIN. ICH WILL NICHT STARK SEIN.

ICH KANN NICHT MEHR LAUT SEIN UND ICH KANN NICHT MEHR STILL SEIN.

 

WAS SOLL ICH TUN?

 

 

Mein Ginkgo Baum

 

Als ich sechs war, kaufte mein Vater zwei kleine Ginkgo Sprösslinge und pflanzte sie nebeneinander in unseren Garten.

Unsere Kaninchen freuten sich und knabberten die langsam rau werdende Rinde weg.

Trotzdem wuchsen sie schnell hoch und bald grub mein Vater den zweiten Sprössling aus und pflanzte ihn in den hinteren Teil unseres Gartens um.

Auch wenn es dort ein bisschen schattiger und ein bisschen kühler als am vorherigen Ort war, wuchs er hoch und grünte jedes Jahr.

 

Der erste Sprössling ging mir bis zum Knie als er eingegraben wurde. Klein und zart.

Und ich kann mich erinnern, dass ich mit sechs dachte: „Wenn ich erwachsen bin, wird der Baum riesengroß sein. Eben wie ein richtiger Baum“.

Zumindest habe ich mir das gewünscht.

 

Danach habe ich nie wieder über den Ginkgo Baum nachgedacht.

 

Heute habe ich einen Spaziergang durch meinen Kindheitsgarten gemacht.

Und während alles andere so klein schien, ragte plötzlich der Ginkgo Baum riesengroß vor mir hoch.

Und während ich so vor ihm stand und überlegte, ob der Ginkgo 2x, 3x, oder 4x so groß war wie ich und wann er so groß geworden ist, vergaß ich plötzlich alles andere.

 

Das Still sein, das Schweigen, das Laut sein. Das Sein.

 

Ich stand unter seinen Blättern und beobachtete das Wolkenspiel durch die Spitzen seiner Äste.

 

Wäre ich doch nur ein Baum. Oder wäre es doch nur ein Traum. Oder wäre ich doch nur eine Wolke. Angeleuchtet am warmen Sommerabend.

 

Als ich wieder ins Haus ging, wusste ich, dass ich den Ginkgo Baum nicht mehr vergessen würde.

 

Ich stelle mich unter seine Blätter, wenn das Schweigen zu laut, die Stille zu leise und das Laut sein unerträglich wird. Und erinnere mich daran, wie aus einem kniehohen abgeknabberten Sprössling ein richtiger riesengroßer Baum wurde.

 

© privat

 

„Was ich am meisten bereute, war mein Schweigen. Und es gibt so viele Schweigen zu brechen.“- Audre Lorde (S. 33)

Rebecca Solnit schreibt in ihrem Buch ,Die Mutter aller Fragen‘ über die kurze Geschichte des Schweigens und trifft eine Differenzierung zwischen Schweigen und Stille, die mich sehr zum Nachdenken gebracht hat. Schweigen (silence), vielleicht mehr ein zum Schweigen-gebracht-werden, ist „der Ozean des Ungesagten, des Unsagbaren, Unterdrückten, Ausgelöschten und Ungehörten“ (S. 33). Es wird von Strukturen und Menschen auferlegt, ist Unterdrückung und Gewalt und führt zu einem Meer an unausgesprochenen Geschichten und Wörtern.

Stille (quiet), ist eine aktive Entscheidung, eine Selbstermächtigung. Es ist eine Macht, die Stille aktiv zu suchen, ohne stimmlos zu sein. Der Unterschied zwischen Schweigen und Stille, ist der Unterschied zwischen schwimmen und ertrinken (S. 34).

In folgenden Textschnipseln denke ich darüber nach, welche Stimmen in Schweigen und Stille gehört werden und welche Stimmen auch nach einem gebrochenen Schweigen, immer noch im Meer versinken. Ich möchte betonen, dass ich Rebecca Solnits Gedanken über Schweigen und Stille weiterdenke und mich nicht nur aufs patriarchale stimmlos-machen beziehe, sondern auf alle verschiedenen zusammenwirkenden gewaltvollen Strukturen, in denen wir uns bewegen und dagegen ankämpfen nicht unterzugehen.

Dies ist der zweite Teil von Nabis Erkundungen zwischen dem Unterschied von Schweigen und Stille. Hier könnt ihr den ersten Teil lesen. Es handelt sich um ein Gedicht „Wenn aus Schweigen Wut wird.“