Der folgende Text ist eine editierte Version vom Original aus der Reihe „110m Hürden“ des FICKO-Magazins.
Das reflektierte Verhalten von sogenannten Privilegierten äußert sich zu oft in dem Bemühen etwas individuell „richtig“ zu machen, in dem Regeln befolgt werden, deren Sinnigkeit ich in Frage stelle und deren Ausgangspunkt ich für entmündigend und selbstzentriert halte (Facette 1). Auch schön ist, wenn das reflektierte Verhalten dazu führt, dass Menschen sich entinvolvieren und das politische Feld nur noch vom Seitenrand beschweigen (Facette 2). Nicht zuletzt stört mich an den Lösungsstrategien der politischen Gruppen, die (oh böse, böse!) vor allem aus Privilegierten bestehen, der instrumentelle Blick auf die Perspektive Betroffener. Denn immer wieder geht es dabei letztlich darum keinen Ärger von BiPoC-Strukturen zu bekommen, statt sich tatsächlich zu überlegen, wie politische Veränderung in Richtung eines guten Lebens für alle (d.h. auch für Marginalisierte) aussehen kann und wie wir dieses Leben endlich gemeinsam erkämpfen können. Hier ein ausführlicherer Blick auf die Perlen dieser Bullshit-Kiste:
Facette 1: be woke
Die Welt ist ungerecht. Immer wieder werden die strukturellen Ungleichheiten, die uns unterschiedlich treffen, von einigen brav-unterwürfigen, privilegierten Verbündeten ausgebadet, indem sie individuell dafür aufkommen: sie geben mir Raum, lassen stehen, was ich sage, stellen bloß nichts in Frage, was aus meinem Mund kommt, bezahlen Rechnungen, spülen ungefragt Geschirr, veranstalten in diverser Besetzung – aber auch kein Tokenism, ist ja klar!
Heidewitzka, wie privilegiert muss mensch sein, um so mit strukturellen Ungleichheiten umgehen zu können! Fresse halten, blinder Gehorsam gegenüber Betroffenen aller Art, ran an den Herd! Einfach die Gewalt von weißer Vorherrschaft und Patriachat durch Selbstkasteiung, ständiges ungefragtes Outen der eigenen Perspektivmängel und unterwürfiges Drecksarbeitverrichten wieder gut machen. Danke, reflektierter weißer Cis-Typ, dass du nicht einmal Lob willst!
Props für dich und Opferrolle für mich
Ist es wirklich so selbstlos? Ich denke nicht. Denn du wirst belohnt: durch das reine Gewissen der moralisch Besseren, dem sozialen Abwärtsvergleich gegenüber denjenigen, die es viel schlechter gemacht haben als du und die Anerkennung der eigenen Gang.
Und ich? Ich werde begrüßt mit „Willkommen im infantilisierenden Paradies für Menschen mit Diskriminierungserfahrung“. Euer wokes Verhalten zeigt mir, dass ich offenbar nicht selbst für meinen Raum sorgen kann. Mir wird die Chance genommen, dazuzulernen, verbessert zu werden, Fehler zu machen, weil mir nicht widersprochen wird. Mein Getränk oder die anderer selbst zu zahlen, wird eher als falscher Stolz verbucht, während die Möglichkeit, dass ich mehr verdiene als alle anderen am Tisch oder einfach keinen Bock auf karitative Gesten habe, nicht in Erwägung gezogen wird. Ich kriege die Alien-Sonderbehandlung, die mir ins Gesicht drückt, dass ich es ja „ach so schwer“ zu haben hab. Geiles Empowerment! Richtig selbstermächtigend!
Facette 2: reflektierte Passivität
Warum das ganze woke Verhalten? Unter anderem, weil Nicht-Betroffene aus ihrer Erfahrung und Perspektive nichts zu Dingen sagen können, von denen sie nicht betroffen sind. Wäre ja bevormundend! Was weiß ein weißer Cis-Typ schon zu meiner Lebenswelt zu sagen…?
Gute Frage! Was kann mensch zum Unrecht dieser Welt sagen? Dass
– ungleicher Zugang zur weiterführenden Schule,
– erschwerte körperliche und sexuelle Selbstbestimmung,
– Barrieren im öffentlichen Raum,
– ungleiche Bezahlung,
– Beschimpfungen bis zu körperlichen Übergriffen,
– Hunger,
– häusliche Gewalt,
– und jede andere Form von Unrecht und Gewalt, die systematisch ist,
scheiße und falsch sind, muss ich nicht erfahren. Wer dazu nichts zu sagen hat (zumindest solange nicht genug Betroffene in den eigenen Strukturen sitzen), kämpft nicht mit mir, sondern hat Angst davor kritisiert zu werden: lieber nichts sagen, als was Falsches zu sagen.
Facette 3: eure Repräsentanz gegen meine Angst!
Es gibt unzählige Gründe Betroffene zu hören: Perspektiven, die der konstruierten Norm entsprechen, sind nicht universell (z.B. nicht alle Feminist*innen sind weiß, deshalb gilt die Erfahrung weißer Feminst*innen nicht für alle). Es gibt situiertes (d.h. kein aus allen Perspektiven gültiges) Wissen und blinde Flecken (wer noch nie einen Alltag jenseits der eigenen Muttersprache erlebt hat, kennt die Schwierigkeiten damit nicht). Die Welt ist durchzogen von Machtstrukturen, die schnell reproduziert werden. Das heißt: die Perspektive Betroffener wird durch rassistische Vorherrschaft und patriarchale Strukturen systematisch marginalisiert. Es ist gut und wichtig sich in der politischen Praxis über eigene Verwobenheit in strukturelle Ungleichheiten bewusst zu sein. Den Blick nicht nur auf Betroffene zu richten und darin unsichtbar zu machen, dass es auch Ausübende oder strukturell Privilegierte gibt, ist ja völlig in Ordnung.
Daraus folgt häufig A) der Schluss zu vielen Themen nicht sprechen zu dürfen (siehe Facette 2) und dann B) der Schluss die eigene Struktur müsse einfach diverser werden! Und welchen Zweck soll das haben? Warum soll eure Struktur diverser werden? Zu 95% folgt auf die Frage zunächst ein aufrichtiges Anliegen „Wir wollen endlich wieder kämpfen. Wir haben Themen, die uns bewegen, bei denen wir wissen, dass sie komplexer sind als unsere Perspektive.“. Das wird dann vermischt mit Müll, der „reflektiert“ klingend verpackt wird aber folgendes meint: „Diese Ohnmacht ist unaushaltbar. Wir wollen etwas dazu sagen dürfen, aber würden wir uns jetzt dazu äußern, wird uns unsere mangelnde Glaubwürdigkeit/Rassismus/… vorgeworfen und davor haben wir Angst.“.
Also warum wollt ihr wirklich diverser werden? Um zu zeigen, dass ihr „es verstanden“ habt? Um keine Vorwürfe zu bekommen? Um die eigene Legitimität wiederherzustellen? Eigentlich höre ich nur folgende Angst schreien: „Bitte, BiPoCs, bitte nicht schlagen!“ und um das zu vermeiden, höre ich „unsere Gruppe muss diverser werden“. Damit werden die „diversen Neuzugänge“ zum Schutzschild vor wie auch immer gearteter Kritik und die gesuchte Legitimation ist wiederhergestellt. Geile Betroffenenzentrierung! Dieser Repräsentanzfokus ist nur ein trauriger Versuch, den eigenen Arsch zu retten und keine Solidarität.
Aus einem aufrichtigen Anliegen politisch zu kämpfen und aus den Fehlern vergangener Bewegungen zu lernen, resultiert ein verschobenes Anliegen, das die eigene Misere der mangelnden Diversität in den Vordergrund stellt, aber die eigentliche Frage in den Hintergrund rücken lässt: Wie kämpfen wir gemeinsam und nicht nur in unserem eigenen Sinne? Aber stattdessen am Ende wieder nur mit sich und dem eigenen, ewig schlechten Gewissen beschäftigt zu sein, ist so langweilig und politisch bedeutungslos. Es langweilt mich nicht nur, sondern viel schlimmer: es ist anstrengend, diesen Privilegierten dann wieder Mut machen zu müssen, doch endlich wieder politisch zu agieren, statt hilflos in der Ecke rumzustehen, bis die richtigen Quoten hergestellt sind.
Nochmal: Ich sage nicht, dass Betroffenenperspektiven irrelevant sind. Ich sage, dass die Frage nach Betroffenen meist aus bekackten Gründen gestellt und idiotisch beantwortet wird. Die Lösung aber vor allem darin zu sehen, sich um Repräsentanz Marginalisierter zu bemühen, ist zu kurz gegriffen und vereinfacht. Sie stellt oft was ganz anderes her, als den realen Versuch aus unterschiedlichen Perspektiven das Gemeinsame zu suchen und zu erkämpfen.
Ich finde es falsch unsere Unterschiedlichkeiten moralisch gegeneinander aufzuwiegen und die Unterdrücktesten aus Prinzip gewinnen zu lassen und das dann „intersektional“ zu nennen. Ich glaube daran, dass eine andere Praxis daraus resultiert, wenn die Betroffenenperspektive für das eigene Ziel, den Sieg, die Befreiung als notwendig erachtet wird – „notwendig“ und nicht „richtig“. Wie Lilla Watson sagte:
„If you’ve come to help me, you’re wasting your time. But if you’ve come because your liberation is bound up with mine, then let us work together“.
Mein Kampf ist nicht gewonnen, wenn Ausbeutung und Entrechtung nicht mich, dafür aber andere treffen. Und dieses Problem löst sich vielleicht nicht einfach durch wokes Regelneinhalten, Schweigen zu struktureller Gewalt und die Repräsentanz Marginalisierter bei kommenden Veranstaltungen.
Der Fokus auf die politischen Anliegen der Betroffenen und der reale Kampf gegen die Verhältnisse gehen dabei verloren. Meine Erfahrung zeigt, dass die armen, von ihrem Gewissen geplagten Privilegierten versuchen „es richtig zu machen“ – und vor allem nicht falsch, bloß keine Schelte abholen! Konfuzius‘ drei Affen.
„OK – und wie mach ich es jetzt richtig?“
Wenn es darum geht sich mündig zu verhalten und nicht darum einfach eine Reflektions- und Repräsentanz-Checklist abzuarbeiten, um zu den Guten zu gehören, funktioniert die Frage nicht. So ist das, wenn wir die befreite Bäckerei wollen, und nicht nur mehr vom Kuchen – sogar für die armen Anderen, für die wir jetzt nicht sprechen können.
Aber vielleicht hilft euch das: Bitte, nehmt euch nicht so wichtig. Eure Selbstbeschäftigung mit euch selbst als „Barriere“ für Menschen wie mich ist eher narzisstischer Größenwahn als Solidarität mit mir. Statt mich zu viktimisieren und entmündigen, lasst uns doch ehrlich sein: Ihr seid nur neidisch, denn wir wissen längst: Wir werden nicht nur abgewertet, um ausgebeutet zu werden (als billige Hausfrauen/Pflegekräfte/Spargelerntehelfer/…), sondern weil wir „Anderen“ für ganz viel geilen Scheiß stehen, der euch nicht vergönnt zu sein scheint. Deshalb kämpfen wir gemeinsam für die Kanakisierung aller Verhältnisse – gegen die Traurigkeit und Langeweile des kapitalistischen Almanalltags!