Immer noch zwischen Wut und Trauer.

Niemals werden wir vergessen
Gerade mal einen Monat ist es her, dass neun Menschen durch einen rechtsextremem Terroranschlag in Hanau ermordet wurden. Heute ist der internationale Tag gegen Rassismus, aber auch an den restlichen Tagen des Jahres sollten wir ihn leben und politische Zeichen setzen. Und uns vor allem gegen das Vergessen einsetzen. Unsere Autorin Tuğba Yalçınkaya lässt uns an ihren Emotionen und Gedanken zu Hanau teilhaben: Momentaufnahmen durch persönliche und kollektive Leere gepaart mit Wut und belastetem Herzen.

Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Welkow, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu

Wohin mit all der Trauer um diese neun Menschen, die Opfer des rechtsextremen Terroranschlags in Hanau geworden sind?
Ich wache auf und das erste, das ich an diesem Morgen lese – so wie viele andere Menschen in Deutschland auch – sind die Nachrichten von Hanau. Der in Deutschland tief verankerte Rassismus zeigt sich von seiner brutalsten Seite. Er hat neun Menschen in Hanau getötet. So wie er zuvor Menschen in Rostock, Duisburg, Mölln, Hoyerswerda, Solingen und Halle getötet hat. So wie er auch den Opfern des NSU das Leben genommen hat.

Guten Morgen Deutschland, merkst du eigentlich noch was?

Ich gehe zur Arbeit und sitze vor dem Computer. Ich kann nicht arbeiten, sondern lese alle Berichte und andere Nachrichten zu Hanau und scrolle meinen Twitter-Feed rauf und runter. Er wird in diesen Stunden zur gemeinsamen Trauerplattform. Und er ist es immer noch. Am selben Abend gehe ich zur Demonstration auf dem Hermannplatz in Neukölln. Mehrere tausend Menschen haben sich hier versammelt, um ihre Wut auf das Nichts-Tun vieler Politiker*innen gegen Rassismus in Deutschland loszuwerden. Und um gemeinsam zu trauern. Je mehr wir auf der Demonstration über die politischen Entwicklungen sprechen, desto mutloser werden wir. Die Wut hat uns alle durchfressen. Eine Erinnerung schießt mir durch den Kopf. Als Kind, nach 9/11 sagte mein Opa zu mir: „Es kann passieren, dass sie uns hier bald nicht mehr haben wollen. Dann müssen wir zurückgehen.” Damals schaute ich ihn irritiert an. Ich verstand nicht, was er mir sagen wollte. Oder wollte es nicht verstehen, denn ich spürte, dass die Wahrheit wie ein Biss in den bitteren Apfel sein würde. Ich mochte keine bitteren Äpfel, nur saure.
Ich treffe mich mit Freund*innen in einer Shisha-Bar. Wir haben das Bedürfnis, uns über unsere Gedanken und Emotionen auszutauschen und uns über die Ignoranz der Politik aufzuregen. Wohin mit unserem Groll? Wir halten inne und fragen uns: Was muss noch alles passieren, damit das Rassismusproblem in seiner Vollständigkeit und Gewalt von der Politik wahrgenommen und entsprechend gehandelt wird? Handlungen, die über leere Worthülsen hinausgehen. Handlungen, die nicht Symptome behandeln, sondern das Problem an der Wurzel packen. Was ist mit all den Menschen, die sich von Hanau und all den anderen rechtsextremen Taten angegriffen fühlen? Wer sagt ihnen, wer sagt uns, dass wir uns keine Sorgen machen brauchen; dass wir in sicheren Händen sind; dass wir nicht allein sind? Niemand. Wir – die, die durch den Terroranschlag per Zielgruppe betroffen sind – stehen selber zusammen. Mit denen, die sich aufrichtig mit uns solidarisieren. Wir machen uns Mut. Gehen den Kampf gegen Rassismus selber an, weil die Politik es nicht tut. Tagtäglich. Der Kampf gegen Rassismus vereint uns. Dafür müssen wir uns nicht einmal mögen.

 

Say their names.

Ich liege auf dem Sofa und blicke ins Leere. Ich fühle mich betäubt von all‘ dem Schmerz, so benebelt von negativen Gedanken. Während die meisten, insbesondere weißen Menschen in Deutschland schon längst wieder zu ihrer Tagesordnung übergegangen sind, sind wir es nicht. Weil das emotional nicht möglich ist. Denn auch unsere Geschwister oder Cousin*en hätten in der Shisha-Bar sitzen können. Während wir mit diesem tief sitzenden Schmerz mal wieder versuchen, selber klar zu kommen, wird Hanau nicht mal an Schulen thematisiert. Ich erinnere mich noch sehr genau, dass nach den Anschlägen von 9/11 damals über nichts anderes in der Schule gesprochen wurde. Hanau aber scheint die meisten deutschen Schulen nicht zu berühren, geschweige denn zu tangieren.
Wie können Lehrer*innen, wie können Schulleitungen das verantworten? Sehen sie nicht, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem ist? Sehen sie nicht, dass vor ihnen Schüler*innen sitzen, die auch in der Shisha-Bar hätten sitzen können? Sehen sie nicht, dass sie durch die Nicht-Thematisierung das System aufrechterhalten und somit selber Teil des Problems sind? Wie viel Zeit müssen wir noch damit verbringen, Rassismus wieder und wieder zu erklären, um ihn sichtbar zu machen? Der Kampf des Sichtbarmachens raubt Energie für Handlungen, die schon längst fällig sind. Wann fangen wir endlich an, gemeinsam strukturelle, nachhaltige Veränderungen zu schaffen? Wie sichtbar muss Rassismus noch werden? Wie viele Opfer braucht es noch?
Seit dem Anschlag in Hanau ist mehr als ein Monat vergangen. Unser Alltag wird aktuell durch das Coronavirus und seine Eindämmung bestimmt. Die Lage ist ernst. Corona betrifft alle und hat neue Formen der Solidarität und des menschlichen Miteinanders hervorgerufen: Nachbar*innen, die der Risikogruppe angehören, werden unterstützt und bedarfsorientiert versorgt, Supermärkte haben teilweise gesonderte Einlasszeiten für Menschen über 65 Jahre. Niemand soll alleine sein. Die gleiche Intensität der Solidarität und gesamtgesellschaftlichen Vernetzung wünsche ich mir auch im Kampf gegen Rassismus. Wenn auch nicht durch einen medizinischen Test nachzuweisen: Auch Rassismus hat sich weltweit ausgebreitet. Auch er bringt Menschen um. Nicht durch die Schwächung des Immunsystems wie beim Coronavirus. Sondern durch die Etablierung konstruierter rassistischer Ideologien, die sich über Jahrhunderte wie ein Virus ausgebreitet und in unserer gesellschaftlichen Realität verfestigt haben. Nicht annähernd wurden sie von Regierungen in vergleichbarer Weise bekämpft, wie sie es aktuell gegen das Coronavirus tun.
So allgegenwärtig wie derzeit die Coronakrise für die Gesamtbevölkerung ist, ist es Rassismus für uns Betroffene ein Leben lang. Der damit verbundene Schmerz sitzt tief. Tief in uns, tief im (post-)migrantischen kollektiven Gedächtnis. Ich habe mich viel mit Freund*innen und Bekannten über den rassistischen Anschlag unterhalten. Darüber, was all‘ das eigentlich mit uns macht. Mit unserem Herzen, mit unseren Emotionen, mit unseren Gedanken, mit unserem Alltag. Wir alle haben einen unterschiedlichen Umgang mit dieser Trauer. Uns allen gemeinsam ist jedoch, dass sie uns innerlich zerreißt, uns verzweifeln lässt und wütend macht. Wir sind müde und wir sind es leid, tagein tagaus, über Rassismus zu diskutieren. Aber es führt kein Weg daran vorbei. Denn diesen politischen Kampf übernimmt niemand anderes für uns. Auch nicht den gegen das Vergessen.

Rest in peace. Wir werden euch nicht vergessen. Niemals.

Text: Tuğba Yalçınkaya
© Foto: Tobias on Unsplash


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