„Ich komme aus Venezuela, aber ich bin Berlinerin!“ erklärt die Performance-Künstlerin, Sängerin, Musikproduzentin und Transfrau Danielle. Bekannt ist sie unter dem Künstlernamen Aérea Negrot. „Die Leute sagen dann immer: ah, du kommst aus Venezuela!“, ärgert sie sich und fühlt sich nicht als Berlinerin anerkannt. „Nein, ich komme jetzt aus Berlin, ich lebe hier seit Jahren und kenne hier schon alles!“ 
Damit weist sie auf eine weit verbreitete Problematik von emigrierten Menschen hin. „Mein Herzheim“, wie sie Berlin liebevoll in einem ihrer Lieder nennt, ist ihr gewähltes Zuhause. Der Ort, an dem sie schon seit 16 Jahren lebt und ihre Karriere – unter anderem im Berliner Nachtleben – aufgebaut hat. Warum sollte sie nicht sagen dürfen, sie sei Berlinerin, wenn sie sich so fühlt? Was ist Zuhause, wenn nicht der Ort an dem mensch sich zuhause fühlt? Was bedeutet es ein neues Zuhause in einer fremden Kultur aufzubauen?

 

 

Un Planeta

 

Darum geht es in dem Film „Un planeta“ (Ein Planet) von Isabel Calderón. Isabel Calderón kommt ursprünglich aus Kolumbien, hat „Interkulturelles Konfliktmanagement“ an der Alice-Salomon-Hochschule studiert und ist leidenschaftliche Dokumentarfilmerin. Bei diesem Film ist sie für Regie, Drehbuch und Kamera zuständig. Neben ihr sind alle, die hinter diesem Projekt stehen, Frauen aus Lateinamerika und der Karibik, die heute in Berlin leben. Es ist also ein Film von, miteinander und füreinander, als Migrantinnen. Produziert wird der Film von der Lateinamerikanischen Fraueninitiative Neukölln (LAFI e. V.), gefördert von der Stiftung Nord-Süd-Brücken mit finanzieller Unterstützung des BMZ sowie mit einem erfolgreichen Crowdfunding bei Startnext. Die Lateinamerikanische Fraueninitiative existiert seit 2017 und hat seit dem vielseitige Projekte ins Leben gerufen um Frauen (FLINT*) aus Lateinamerika und der Karibik sichtbar zu machen. Der Verein organisiert unter anderem Vorträge und Workshops zum Thema Gender, Migration und Dekolonialisierung, sowie internationale Vernetzung mit weiteren feministische Frauenorganisationen (z. B. Mujeres Farianas in Kolumbien oder Kurdische Frauenbewegung in Berlin) und Boxkurse für FLINT* in Neukölln.
Inhalt des Films sind die Lebenswelten lateinamerikanischer Frauen in Berlin. Zehn einzigartige Frauen wurden von der Filmemacherin während der aktuellen Pandemie interviewt. Sie berichten aus ihrem Leben, erzählen ihre Migrationsgeschichte und teilen ihre Träume über eine grenzenlose Welt. Lyrisch begleitet wird der Film durch einen bewegenden Text von Yesica Prado, in dem es über die Geschichte der Menschheit geht und wie diese Geschichte eine Geschichte der Migration und der konstanten Bewegung ist. „Vom kleinsten Mikroorganismus bis zum größten Planeten, der im All seine Bahnen kreist, ist alles konstant in Bewegung“, also warum sollten wir weiterhin eine Welt der Grenzen aufbauen, wenn die Bewegung elementarer Teil des Lebens selbst ist?

 

Das „Fremde“ wurde zum „Anderen“

 

Der Film ist Teil eines größeren Projektes: Die Lateinamerikanische Fraueninitiative hat sich zum Ziel gesetzt ihre eigene Studie zu Migration durchzuführen. Der Film dient als audiovisueller Prolog. Durch die Studie soll der Diskurs über Migration aus der Perspektive der migrierten Frau* – als interkulturelle Brücke zwischen Deutschland, Europa und Lateinamerika – nachhaltig werden. Der fundamentale Gedanke dahinter ist es, der eurozentristischen Perspektive innerhalb der Wissenschaften durch dekoloniale Ansätze entgegen zu wirken. Damit soll auch mehr Aufmerksamkeit auf das Thema des dekolonialen Feminismus bzw. des lateinamerikanischen Feminismus gelenkt werden. Es ist Zeit, sich innerhalb der westlicher Hemisphäre der Folgen des Kolonialismus bewusst zu werden. Die Hierarchisierung westlicher Perspektiven in der Wissenschaft ist ein zentraler Bestandteil dessen. Die Geschichte des Kolonialismus ging mit der wissenschaftlichen Revolution und „Erforschung“ des Planeten und seiner Bewohner*innen einher. Das „Fremde“ wurde zum „Anderen“ und dabei stets im Gegensatz zum bereits bekannten (Europäischen) gemessen, analysiert und bewertet. So schreibt auch die Wissenschaftlerin Linda Tuhiwai Smith in ihrem Buch „Decolonizing methodologies: Research and indigenous peoples“:

„From the vantage point of the colonized, a position from which I write, and choose to privilege, the term ‘research’ is inextricably linked to European imperialism and colonialism. […] The ways in which scientific research is implicated in the worst excesses of colonialism remains a powerful remembered history for many of the world’s colonized peoples.“

 

Auch die Brasilianerin Bárbara Santos beschreibt, wie für sie die Folgen der kolonialen Erfahrung in einer Form eines „Minderwertigkeitskomplexes“ immer noch spürbar sind. Und wie schwer es für sie war, diesen anzuerkennen. „Das ist der Grund, warum der Kolonialismus viel größer ist als wir: Wir lernen, dass es etwas Überlegenes gibt, wir lernen, dass wir unterlegen sind“, erzählt sie. Ihre Strategie diesen Komplex zu überwinden findet sie im Theater. So wie Bárbara haben alle Frauen im Film ihre ganz besondere Art ihren Prozessen Ausdruck zu verleihen: Die eine durch Rosen, die andere durch Kunst mit Körperhaaren, die andere durch politisches Boxen…

 

 

Ich bin das Zentrum

 

Das Thema des „Anderen“ in der Peripherie und der „Einen“, die im „Zentrum“ stehen, ist schon lange ein Thema der Dependenztheorie bzw. der Weltsystemtheorie. Sie beschreiben wie Unterlegenheit und Abhängigkeit auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene zusammen kommen. Karina, eine aus Argentinien stammende Aktivistin, Künstlerin und Mutter, hat für diese Problematik eine raffinierte Lösung gefunden: „Ich spreche also nicht mehr vom „Anderen“ oder von etwas, das „zentral“ ist“, erklärt sie, „sondern ich positioniere mich selbst als Zentrum und erkenne andere Zentren an, und das erlaubt mir, einen Gedanken der Vielfalt, der Gleichheit und der Horizontalität zu bewahren.“
Und genau solche Gedanken braucht es für eine wahrhaft neue Perspektive. Es ist eine Zeit des Umbruchs und der Veränderung. Es wird Zeit anzuerkennen, dass das „Andere“ ein Teil von uns ist und wir einander spiegeln, denn wir leben alle auf diesem einen Planeten.

 

© privat