Ein Beitrag von Tannaz Falaknaz

Ich war 5 als ich mit meiner Mutter aus dem Iran nach Deutschland floh. Das war 1995. Mit dem Iran verband ich zu dem Zeitpunkt nur den Hof meiner Oma, den Geschmack von Safran-Eis, lange Sommerabende, genauso lange Wintertage unterm Korsi, in denen die Familie zusammensitzt und sich Geschichten erzählt. Um Politik ging es an diesen Abenden nie. Zumindest erinnere ich mich nicht daran. Es wurde einfach viel gelacht. Noch immer habe ich das Lachen meines Onkels im Ohr, obwohl sein lautes Schluchzen bei unserem Abschied am Flughafen mich im Laufe meines Lebens noch länger beschäftigte. Mein Großvater füllte meine Jackentasche mit Pistazien und Nüssen. Das war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah. Jahre später sagte meine Mutter mir, dass er kurz vor dem Abschied am Flughafen sagte: „Ich weiß, dass wir uns nie wiedersehen werden“. Und so kam es auch. Eine letzte Umarmung und wir stiegen in den Flieger. “Für uns beginnt nun ein neues Leben in Deutschland“, flüsterte meine Mutter mir zu. Und so kam es auch.

Rückblickend weiß ich nicht recht, wie viele Jahre es gedauert hat, bis ich das neue Leben in Deutschland und die Unterschiede zum Leben im Iran verstanden habe, bis ich verstanden habe, dass meine Mutter in Deutschland nicht nur keinen Kopftuch mehr trägt, weil sie es so will, sondern, weil sie nicht mehr muss. Auch gibt es kein Schlüsselmoment, in welchem mir klar wurde, welches große Glück ich hatte, als das Flugzeug damals mit sanften Rädern eine Landebahn der Bundesrepublik Deutschland berührte und in edler Balance zum ersten Mal für uns eine Demokratie streifte. Denn ich war erst 5 als wir das erste Mal Freiheitswind spürten und meine kleinen Finger das Salz der Pistazien vor lauter Aufregung lösten.

Es hat lange gedauert bis ich die Unterschiede zum Leben im Iran verstanden habe.

Und, so selbstverständlich das Leben in Deutschland für mich zu Beginn vielleicht noch war, immer mehr begann ich, das nicht als selbstverständlich zu betrachten.

Dabei würde ich sagen, dass ich schon immer politisch denkend war. Zu sehr beschäftigten mich die Bilder und Geschichten junger demonstrierender Menschen im Iran, die oft sogar ihr Leben riskieren, um ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit zu führen. Ein Risiko, das auch meine Eltern eines Tages eingegangen sind. Das Gepäck, das mir damals so schwebeleicht vorkam, war voller schwer Schicksalsschläge, geplätzer Träume und traumatischer Erinnerungen eines langen nicht enden wollenden Krieges in den 80er Jahren. An all das erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich in der Wahlkabine bin und mein Kreuz so fest wie möglich auf das Blatt presse. An all das dachte ich, als ich eines Tages beschloss, mich politisch zu engagieren.

Nach meinem Umzug nach Berlin 2013 trat ich der SPD bei. Drei Jahre später hatte ich ein Mandat inne und machte auch von meinem passiven Wahlrecht Gebrauch. Heute mache ich als junge Frau mit Migrationshintergrund Politik. Eine junge Frau mit Migrationshintergrund macht Kommunalpolitik. Was meine Motivation ist? Nun, u.a. eben das. Ich bin eine junge Frau mit Migrationshintergrund. Man mag mir vorwerfen, mich selbst auf Merkmale zu reduzieren. Vielleicht tue ich dies auch. Aber jede der drei Komponenten ist mir Motivation.

Von den derzeit 709 Abgeordneten im Bundestag sind nur 21 unter 30 Jahre, nur ein Drittel Frauen, und: nur 7,5 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Nur 7,5 Prozent.

Wie viele der Abgeordneten eine Frau mit Migrationshintergrund unter 30 sind, weiß ich nicht. Auch ohne die Hohe Kunst der Mathematik zu beherrschen, weiß ich: Es werden nicht viele sein.

Wenn wir Demokratie ernst nehmen wollen, müssen wir uns einbringen. Die Ausrede, dass man nichts ändern kann, sie zählt schon lange nicht mehr. Ich habe Politik erst verstanden, als ich politisch aktiv wurde, ich hab das Einstehen von meinen Rechten und Pflichten erst verstanden, als ich beschloss, selbst die gewollte Veränderung zu sein. Während wir bundesweit erste Überlegungen treffen, wie man unter anderem durch ein Paritätsgesetz mehr Frauen für die Politik begeistern kann, fehlt es bislang an Überlegungen, wie man auch junge Menschen mit Migrationshintergrund dafür begeistern kann, ein politisches Mandat anzustreben. Gerade als junge Frau mit Migrationshintergrund steht man oft vor verschlossenen Türen. Aber uns stehen auch so unfassbar viele Türen offen. Ein Parteieintritt ist heutzutage einfacher denn je, dauert keine 5 Minuten, ist günstiger als viele Monatsabonnements, welche wir jungen Menschen heute haben. Welchen Grund gibt es, sich nicht zu engagieren?

Ich träume von einer vielfältigen Gesellschaft und muss zeitgleich zusehen, wie Rassismus und Faschismus sich wie schleichendes Gift in der Gesellschaft breit machen. Wir leben in einer oft unsicheren Welt. Doch in dieser unsicheren Welt ist eines sicher: gerade jetzt müssen wir uns aktiv einbringen. Ich will keineswegs mit wir verallgemeinern, bin mir durchaus bewusst, wie heterogen junge Menschen sind, wie heterogen Frauen sind, wie heterogen Menschen mit Migrationshintergrund sind. Und gerade diese Heterogenität braucht es in den Parlamenten. In unserer Heterogenität haben wir auch Gemeinsamkeiten: Wir haben das Glück, uns in einer Demokratie engagieren zu können, und: Wir werden gebraucht.

 

Tannaz Falaknaz (29) ist Bezirksverordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD Fraktion in Pankow.

Bild: Mehr Demokratie CC