Hoch schlugen jüngst die Wellen der Empörung. Abertausende Menschen gingen in der ganzen Bundesrepublik auf die Straßen. Die Demonstrant*innen gingen mit einem gemeinsamen Wunsch auf die Straße, ihrer Empörung, ihrer Wut, ihrer Angst kollektiv Ausdruck zu verleihen. Nachbar*innen die sich sonst kaum begegnen, Kolleg*innen, die sich im Normalfall nur am Arbeitsplatz sehen.
Was war passiert? Mit den Enthüllungen des gemeinwohlorientierten Medienhauses CORRECTIV wurde ein sogenannter Geheimplan bekannt, den extreme Rechte – unter ihnen Mitglieder der Werteunion, der AfD und Aktive der Identitären Bewegung – ausgeheckt hatten. Sie planten und planen noch immer die massenhafte Deportation von Menschen, die sie als nicht zu Deutschland gehörig definieren. So weit, so schlimm.
Das Entsetzen nach dem Bekanntwerden dieser Pläne war groß und das vollkommen zu Recht. Denn der Schwur von Buchenwald lehrt uns alle, dass „nie wieder!“ heißt, sich auch heute, 78 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, gegen den Faschismus zu Wehr zu setzten. So sagte auch Primo Levi, Überlebender der Shoah,
„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Was heißt das nun für uns, als postmigrantische Gesellschaft, die sich über die Pläne der Nazis empört hat und sich nun langsam wieder im weniger aufgeregten Alltag einrichtet?
Bezieht sich das „nie wieder!“ nicht auch auf die Internierung von Familien in Haftlagern? Bezieht sich das „nie wieder!“ nicht auch auf das Sterbenlassen von Menschen auf Grund ihrer Herkunft? Und müsste das „nie wieder!“ nicht auch in Bezug auf gewaltsame sogenannte „Pushbacks“ an den EU-Außengrenzen gelten?
Denn all das ist an den Außengrenzen Europas entweder bereits jetzt bittere Realität oder wird es in Zukunft sein, wenn es nach den Plänen der EU, unter Zustimmung der deutschen Bundesregierung, geht.
Die neueste Ausgeburt, die das individuelle Recht auf Asyl wohl endgültig beseitigen wird, nennt sich GEAS-Reform.
GEAS, das steht für Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Dieses Asylsystem, welches die Migration nach Europa regeln soll, wird also einer Reform unterzogen. Es wird mittels eines ganzen Pakets von Novellierungen und Verordnungen künftig dafür stehen, dass bereits jetzt an den EU-Außengrenzen stattfindende Menschenrechtsverletzungen legalisiert werden und das Grundrecht auf Asyl weiter ausgehöhlt wird. Es steht weiterhin dafür, Familien auf der Flucht auseinanderzureißen und Racial Profiling zu betreiben.
Die GEAS-Reform, die bereits seit Jahren in Planung ist, wurde noch im Dezember 2023, kurz bevor die EU-Parlamentarier*innen in den Weihnachtsurlaub gingen, im sogenannten Trilogverfahren beschlossen. Die Triloge sind Meetings zwischen EU-Rat, EU-Kommission und EU-Parlament. Wenn Verordnungen in diesem Trilog zugestimmt werden, gilt es als äußerst wahrscheinlich, dass diese letztlich auch in Kraft treten. Was nun noch aussteht ist die finale Abstimmung der EU-Parlamentarier*innen in diesem Frühjahr in Straßburg.
Dann werden die Würfel fallen: wie viel „nie wieder!“ wird die EU dann bitterlich verraten. Dann wird sich entscheiden: wie ernst es der EU mit dem Thema Menschenrechte ist. Und bis zu dieser Entscheidung über die GEAS-Reform bleibt es an uns, uns zu fragen: gilt das „nie wieder!“ nur für Deportationspläne von verachtenswerten Neonazis? Oder müsste „nie wieder“ nicht auch ebenso für die Abschiebe- und Abschottungspläne der EU-Bürokrat*innen gelten, die dafür volle Rückendeckung von der deutschen Bundesregierung bekommen?
Wir müssen uns fragen: wie können wir Protest gegen Rechtsaußen artikulieren, ohne uns dabei von der „wir-sind-bunt“-Propaganda der Ampelregierung, die ebenso menschenverachtende Migrationspolitik betreibt, vereinnahmen zu lassen.
Denn eines muss uns klar sein: über die GEAS-Reformen wird nicht im luftleeren Raum entschieden, vielmehr sind diese als ein weiterer Schritt in Richtung eines autoritären Umbaus unserer Gesellschaft zu verstehen. Die Reformen, die als nichts anderes denn als äußerst rechts zu verstehen sind, reihen sich ein in die massive Kürzungspolitik der deutschen Regierungsparteien und den europaweiten massiven nationalistischen Backlash.
Die geplante EU-weite Verschärfung des Asylrechts ist ganz offensichtlich der Versuch der Regierenden, mit harter Hand die Migration zu kontrollieren und damit rechten Wähler*innenpotenzialen hinterherzulaufen. Es ist der verzweifelte Versuch, Migration mittels Gewalt zu beschränken. Dabei ist zu erkennen, wie verzweifelt die EU-Staaten dabei wirken. Denn ganz gleich wie hoch die Zäune um Europa gezogen werden, werden diese dennoch nicht unterbinden, dass sich Menschen auf den Weg machen, um ein besseres Leben für sich und ihre Familien zu suchen. Statt einer solidarischen Einigung der EU-Länder auf einen humanistischen Umgang mit Menschen auf der Flucht setzen sie auf eine Migrationspolitik, die die Menschenwürde mit Füßen tritt.
Es ist an uns, den Menschen in der EU, dieser Politik genauso Einhalt zu gebieten, wie den Neonazis samt ihrer Deportationspläne. Es ist an uns, den verantwortlichen Politiker*innen unser „nie wieder!“ entgegen zuhalten und nicht in dröhnendes Schweigen zu verfallen.
Vinzenz Glaser
Born and raised in East Germany, Vinzenz Glaser is now a Freiburg-based political activist, working (-class) dad and scholarship holder of the Rosa Luxemburg Foundation.