Im Gegensatz zu Geflüchteten, die ihr Land aufgrund von Krieg, Verfolgung, der politischen oder wirtschaftlichen Situation verlassen haben, war meine Entscheidung, Serbien zu verlassen, nach Deutschland zu ziehen und mein Leben neu zu beginnen, freiwillig. Im Gegensatz zu denjenigen, die zu Fuß über die Hügel und Felder gehen mussten, um die Grenze zu überqueren, kam ich mit dem Flugzeug und der formale Grund war ein Freiwilligenprogramm, das es mir ermöglichte, sofort ein Visum zu erhalten. In diesem Sinne unterschied sich meine Reise nach Deutschland wesentlich von der Reise der Menschen, die auf ihrem Weg Narben, Schläge von der Polizei, Abweisung und Hass erfahren haben.

 

Im Gegensatz zu den Geflüchteten, die von Anfang an als Parasiten betrachtet wurden, die das deutsche Sozialsystem ausnutzen wollen würden, werde ich als Durchreisender oder vorübergehender Bewohner wahrgenommen – wie Studierende, die kurzzeitig bleiben und dann in ihr Land zurückkehren. Der Unterschied zwischen uns und ihnen, privilegierten und nicht-Reisenden, wird kleiner, wenn wir die Entscheidung treffen, hier zu bleiben und ein neues Leben zu beginnen. So wurde ich, ursprünglich ein vorübergehender Besucher, zum Migranten, als ich zur Ausländerbehörde ging und ein Arbeitsvisum beantragte. Auf ein Mal fanden wir uns alle in der gleichen Schlange wieder und warteten darauf, dass die deutschen Behörden uns empfingen und uns sagten, ob wir das Recht zugesprochen bekommen würden, hier bleiben zu dürfen. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir mit meinem Sitznachbarn, einem Geflüchteten aus Syrien, der vor einigen Jahren hierher kam, etwas gemeinsam haben: den Wunsch, hier zu bleiben und ein neues Leben aufzubauen.

 

Im Klassenzimmer des Optimismus

 

Was wir Neuankömmlinge also trotz aller Unterschiede gemeinsam haben, ist der Optimismus, unser Leben neu zu beginnen und dass wir vollwertige Mitglieder der deutschen Gesellschaft werden könnten. So trafen wir uns alle nach dem Termin im selben Klassenzimmer des Optimismus wieder: im Integrationskurs. Dort wurden wir uns wieder ähnlich, dort lernten wir Deutsch und sprachen über unsere Visionen. Viele sprachen über ihre Vergangenheit und den Beruf, den sie in ihrem Land hatten, über all das, was sie verloren hatten, über die Träume, die sie hatten und die vielleicht nie in die Realität umgesetzt werden würden.

 

Dennoch strahlten die Klassen oft einen Optimismus aus, der in den Gesprächen darüber zu spüren war, was wir in Deutschland machen möchten, über den neuen Beruf, den wir gerne beginnen würden… Es war ein Ort, an dem wir trotz aller Unterschiede ein gemeinsames Streben in uns fanden und von einem neuen Leben träumten. Mit einem bescheidenen begrifflichen Apparat versuchten wir, unsere großen Wünsche zu artikulieren: Ich möchte Lehrer werden, ich möchte Polizist werden, ich möchte Feuerwehrmann werden… Alle Wünsche waren so unwirklich wie sicher: Lernt Deutsch und ihr werdet gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft werden. Dort, im Klassenzimmer des Optimismus, wurde uns das Versprechen gegeben, dass wir gleichberechtigt werden könnten.

 

 

In diesem Büro lernen wir, wie wir unsere Wut regulieren müssen

 

Doch je mehr wir die deutsche Sprache beherrschten, desto mehr wurde uns bewusst, dass wir zwar Feuerwehrleute oder Astronaut*innen werden könnten, aber keine gleichberechtigten Bürger*innen. Die Ausländerbehörde, die das Visum ausstellt, ist dafür zuständig, uns auf formaler Ebene zu erklären, dass wir noch nicht gleichberechtigt sind. Selbst wenn wir alle Unterlagen rechtzeitig einreichen, ist es nicht sicher, dass wir bald einen Termin bekommen. Auch wenn wir einen Termin bekommen, verschwinden unsere Unterlagen manchmal oder gehen verloren. Manchmal wird ein Papier nicht richtig ausgefüllt und wir müssen wieder warten. In diesem Büro lernen wir, wie wir unsere Wut regulieren müssen und wie wir unsere Wut nicht artikulieren dürfen. Obwohl wir versuchen, alles zu tun, was das Gesetz von uns verlangt, werden wir mit einer Situation konfrontiert, in der eine Institution in der Lage ist irgendwie unsere Dokumente zu verlieren oder nicht auf unsere E-Mails antworten zu müssen.

 

 

In diesem Sinne erscheint die Ausländerbehörde als eine Fortsetzung des Integrationskurses. Neben dem Erlernen der Sprache in der Schule lernen wir auch, wie wir mit unseren Emotionen umzugehen haben, die nicht ausgedrückt werden dürfen. Hier lernen wir Geduld und Angst. Aus Angst, das Bleiberecht in Deutschland zu verlieren, haben wir gelernt, geduldig zu sein und dass in diesem neuen Land unser Ärger oder unsere Wut nicht erwünscht ist. Aus Angst davor, dass uns gesagt wird, dass wir Deutschland verlassen müssen, haben wir gelernt, unseren Ärger und unsere Wut zu disziplinieren, sie zu unterdrücken oder sie als Trauer auszudrücken.

 

 

 

Unser Lachen hat aufgehört natürlich zu sein

 

Neben der Disziplinierung unseres Ärgers und unserer Wut haben wir auch gelernt, in Situationen zu lachen, in denen nichts lustig ist. Immer ein Lächeln im Gesicht zu haben. Der medienpolitische Diskurs über gute und böse Migranten*innen, über diejenigen, die arbeiten und zur deutschen Gesellschaft beitragen, und über Schläger*innen, die sich auf der Straße prügeln oder die Sozialsysteme melken, hat die Bedingungen geprägt, unter denen wir lachen. In dem Bestreben zu zeigen, dass wir gut sind, haben wir uns daran gewöhnt, immer ein Lächeln im Gesicht zu tragen, auch wenn uns gerade nicht danach ist. Die Künstlichkeit des Lächelns selbst wird am stärksten in Situationen empfunden, in denen wir uns anstrengen zu lächeln. Das ist vergleichbar mit einer Situation, in der jemand einen Witz erzählt, der nicht lustig ist, und wir lachen, um seine Gefühle nicht zu verletzen. In diesem Sinne hat unser Lächeln bereits aufgehört, eine natürliche Reaktion zu sein, und ist zu einem Schutzschild geworden, mit der wir unser Wohlwollen, unsere Unschuld und unseren Wunsch, Teil der Gemeinschaft zu sein, unter Beweis zu stellen versuchen. Eine Freundin von mir erzählte mir von einer Situation, in der eine Person, nachdem sie gesagt hatte, dass ihr Onkel gestorben sei, zu lachen begann und sagte: „Toll”. In solchen Momenten bekommt das gezwungene Lächeln eine kränkliche Wirkung. Die Schamesröte kommt dann, weil der erlernte Reflex nicht zur Situation passt.

 

Diese kontrollierte und unterdrückte Wut in Kombination mit einem künstlichen Lächeln macht uns vielleicht zu guten Migrant*innen, aber weniger menschlich. Der Verlust der natürlichen emotionalen Reaktionen führt zu emotionaler Dissonanz: einer Diskrepanz zwischen dem, was wir fühlen und dem, was wir ausdrücken müssen.

 

Die Suche nach Zugehörigkeit: von der (Selbst-)Verachtung zur Neudefinierung der Existenz in ihrer Pluralität

Eine solche Diskrepanz kann zu Hass führen, die ich in zwei Formen unterteile: Selbsthass und Hass auf die Mehrheitsgesellschaft. Die erste Gruppe ist nicht so sichtbar, da der Selbsthass eine Frustration oder Traurigkeit hervorruft, die nicht öffentlich artikuliert wird. Es gibt jedoch auch Ausnahmen von den politischen Folgen des Selbsthasses und der Selbstverleugnung. In dieser Gruppe habe ich einen Zuwanderer kennengelernt, der seit ein paar Jahren in Deutschland ist und das Schlimmste über den Islam sagt sowie den friedlichen und demokratischen Charakter des Christentums hervorhebt. Dieser Selbsthass führte zu einer Ablehnung seiner eigenen Vergangenheit und zu einem Hass auf alles, was seine Identität in der Vergangenheit ausmachte – und somit auch seinem muslimischem Glauben. Um Teil der Gesellschaft zu werden, beschloss er, seine persönliche Biografie zu verdrängen und das Christentum als Pfeiler der Demokratie zu erheben.  Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass rechte Gruppen ihn dazu einladen, ihnen das Problem des Islam zu erklären und damit ihren Hass zu legitimieren.

 

Die zweite Gruppe ist im öffentlichen Raum präsenter und sichtbarer. Diejenigen, die sich durch die Ablehnung und Nichtakzeptanz durch die dominante Gesellschaft zunehmend frustriert fühlen, beschließen, ihr Anderssein zu einem grundlegenden Bestandteil ihrer Existenz zu machen. Dann wird die z.B kulturell-religiöse Differenz zur Basis, um die das Selbstwertgefühl steigt und die Voraussetzung für Selbstbestimmung schafft. Die aufgestaute Unzufriedenheit kann zu einer politischen Subjektivierung auf der Grundlage einer bestimmten religiösen oder nationalen Identität und zu Hass gegenüber der Mehrheitsgesellschaft führen.

 

Ein Teil dieser zweiten Gruppe entscheidet sich beispielsweise, sich radikalen islamistischen oder nationalistischen Gruppen anzuschließen. Indem sie sich diesen Gruppen anschlossen, suchten sie ihre Würde und Gleichheit, sie wurden politisch. Im Zusammenhang mit dem Land, das ich verlassen habe, gibt es in Deutschland zum Beispiel Menschen, die das undemokratische Regime in Serbien unterstützen oder die Nationalismen in Serbien unterstützen, obwohl sie nie in Serbien gelebt haben. Diese imaginäre Community und die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in der sie nie gelebt haben, gibt ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Würde und verleiht ihnen politische Bedeutung. Sie empfinden die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, in der sie nie gelebt haben, selbstverständlicher als die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft.

 

Neben diesen Gruppen gibt es jedoch noch eine weitere Gruppe, die ihre Isolation, Frustration und Nichtanerkennung spürt: Deutsche aus Ostdeutschland. Im Jahr 1990 wurden sie zu einem Anderssein in einer neuen politischen Gemeinschaft. Die Integration in diese neue Gemeinschaft bedeutete, die eigene Geschichte zu verleugnen und alles zu akzeptieren, was richtig ist. Ihre gesamte Geschichte, sowohl die guten als auch die schlechten Seiten, wurde zu einer dunklen Periode der deutschen Geschichte erklärt, die aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden sollte, um eine einheitliche politische Gemeinschaft zu schaffen. Das Gefühl der Minderwertigkeit der ostdeutschen Bürger*innen entwickelte sich innerhalb einer Struktur, die von einer Nicht-Anerkennung in Bezug auf Wissen, Arbeitsfähigkeit und demokratischen Kapazitäten geprägt ist. So sagte Jörg Kachelmann 2023, dass in Ostdeutschland die Mehrheit entweder Kommunisten*innen oder Neonazis seien. In diesem Sinne haben Migrant*innen und Ostdeutsche aus der Perspektive der Westdeutschen ein ähnliches Problem: beide Gruppen sind nicht in der Lage, die Werte der liberalen Demokratie endgültig zu internalisieren und zu lernen, wie sie funktioniert. Hier erscheint die AfD also als verbindende Kraft zwischen Ost- und Westdeutschen und schafft einen gemeinsamen Feind, mit dem alle Unterschiede überwunden werden: die Migrant*innen.

 

Ein elementarer Unterschied in Bezug auf die politische Artikulation ist bereits hier zu bemerken: Hass und Wut haben in Deutschland, durch die Existenz einer nationalistischen Partei die Möglichkeit, sich im institutionellen Raum zu artikulieren, während die Migrant*innen im außerinstitutionellen Raum bleiben und sich dort unterschiedlich formieren. Die Wahlen in Sachsen und Thüringen haben der AfD möglicherweise den Weg geebnet, um stärker Einfluss auf das institutionelle Gefüge zu nehmen.

 

Bereits auf dieser Ebene zeigt sich das politische Potenzial des Aufbaus einer Gemeinschaft, die Spaltungen überwinden kann. Ostdeutsche und Migrant*innen haben vieles gemeinsam. Von der unterwünschten Wut über Nicht-Anerkennung bis hin zum erzwungenen Lächeln und der Forderung, alles der Mehrheitsgesellschaft akzeptieren zu müssen. Ostdeutschland auf Neonazis oder Kommunist*innen zu reduzieren und Migrant*innen auf wütende und extremistische Elemente der Gesellschaft, ist eine gefährliche diskursive Vereinheitlichung. Stattdessen sollten wir die Gruppen in den Blick nehmen, die am Rande des herrschenden Diskurses wirken: Deutsche und Migrant*innen, die gegen den aufkommenden Nationalismus in Ostdeutschland kämpfen und die die Falle des (Selbst-)Hasses überwinden und ihre Erfahrung des Andersseins nutzen, eine Gemeinschaft zu schaffen in der es möglich ist unterschiedliche Erfahrungen und unterdrückte Geschichten zu integrieren.

 

In diesem Sinne verändert sich die Bedeutung des Begriffs Integration. Statt einer Forderung nach absoluter Anpassung, passivem Einverständnis und der Unterdrückung unterschiedlicher Identitäten wird er zu einem Begriff, mit dem wir unsere Bemühungen beschreiben, in der Pluralität unserer Existenzen einen Weg zu finden, um Gemeinsamkeiten zu pflegen und immer wieder aufs Neue über die Praxis der Verbundenheit und des gemeinsamen Handelns nachzudenken.

 

Der immer härter werdende Diskurs über Migrant*innen sowie das Erstarken des Nationalismus in Deutschland sind ein klarer Aufruf, zu überdenken, wie wir unseren Kampf nicht ausschließlich auf unseren unterschiedlichen Identitäten gründen können, sondern durch die Suche nach Gemeinsamkeit in unserer Pluralität. Gruppen, die danach streben, sich selbst zu einem politischen Subjekt zu machen und (Selbst-)Hass zu überwinden, müssen Wege finden, eine politische Praxis zu erfinden, mit der die Bedingungen der Gleichheit neu verhandelt werden können. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, den politischen Raum für alle Gruppen zu öffnen, um dem Versuch entgegenzutreten, Wut und Hass für destruktive Politiken zu instrumentalisieren und stattdessen eine Politik der Gemeinsamkeit und Anerkennung zu schaffen.

 

Obwohl Wut zu einer destruktiven Politik führen kann, ist sie auch nützlich, da sie uns zu einer kreativen Praxis ermutigt, die diese Gesellschaft demokratischer und offener für das macht, was uns menschlich macht: die Pluralität unserer Erscheinungen. Diejenigen, die ihre Wut spüren, können die Gesellschaft verbessern, weil sie die Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen Zustands erkennen. Deshalb ist Wut eine politische Waffe mit zwei Gesichtern.

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