Auf ihrem Streifzug durch den öffentlcihen Raum Berlins bespricht die Autorin den Begriff der INtegration entlang von Müll und Flaschenpfand
Deutschsprachiger städtischer Mülleimer

Müll assoziierte ich schon immer mit dem Begriff „Integration“. Ich erinnere mich an das Deutschbuch meiner Mutter. Wie in allen Fremdsprachenlehrbüchern wurde auch in diesem nicht nur die Sprache vermittelt, sondern auch die Kultur. Eine der ersten Lektionen beschäftigte sich – wenig überraschend- mit Mülltrennung. Ich dachte mir, das mache wenig Sinn, Müll zu trennen, denn dann gebe es weniger Arbeit für die Müllabfuhr. Ich denke immer noch, es macht wenig Sinn, denn die Trennung übernehmen doch die Maschinen. Meine Freundin möchte diesen Umstand nicht wahrhaben und findet mich ganz ad hominem Assi. In ihrer Welt gehen Müll und „Assi“ Hand in Hand. Denn wohlhabende Leute wie meine Freundin legen keinen Wert auf Müll, sehr wohl aber auf Trennung. Müll ist wie Dreck der Unterschicht zugeordnet. „Ist das Kunst oder kann das Weg?“, fragen solche Menschen. Müll trifft man häufig beim Wohnungslosen an, beim Erwerbslosen, bei demjenigen, der vieles verloren hat und der Müll nicht wegwerfen kann. Er lebt und denkt ganz nach Bourdieus Beobachtungen: Er hat einen Habitus der Notwendigkeit. „Ich beschränke mich auch auf das Notwendigste und verwende alte Tüten und Flaschen wieder!“, würde meine Freundin mir widersprechen. Objet trouvé, Süße.

Ketzerisch gesagt: Wir leben nicht viel anders als Menschen in Indien, bei denen die Unberührbaren Wäsche waschen. Die Trennung des Mülls scheint ihr Fetisch zu sein. Ein Fetisch, der tiefe Wurzeln in der deutschen Kultur hat. Kulturverlust wo man auch hinsieht, jammerschade. Meine Freundin versucht noch eine ganze Weile, mir das Mülltrennen nahe zu legen. Ich gestehe ihr, es bringt alles nichts. Wie damals mit der Biotonne, die jeder Haushalt geschenkt bekam. Es war gut gemeint, ich weigerte mich dennoch, mich in dem assimilativen Ausmaß an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Mittlerweile habe ich mich assimiliert. Ich wohne in einem Haus, in dem kein Türschild mit ausländischem Namen an der Tür hängt – außer meinem. Man muss unter diesen Umständen keine Kamera auf den Innenhof richten, um herauszufinden, wer die Übeltäterin ist. Die Einführung der Pfandflasche im Jahr 2002 war für mich ein weiterer, wichtiger Schritt in Richtung Assimilation. Ich weiß aber auch, dass die Einführung der Pfandflaschen für andere Menschen eine größere Entfernung zur Mitte der Gesellschaft bedeutete…

 

Auf dem Weg zum Flughafen Berlin-Tegel

Ich fahre zum Flughafen Berlin-Tegel. Denn es scheint mir der Nicht-Ort schlechthin für die Beobachtung der Auswirkung der Pfandflasche zu sein. Hier treffen Welten aufeinander. Die meiner Freundin und meine.

Während ich auf dem Weg zum Flughafen auf die Tram im Wedding warte, beobachte ich einen Mann. Er geht auf die Gleise, um eine dort liegende Pfandflasche aufzuheben und anschließend auf einen Sitzplatz zu stellen. Voller Liebe zu meinem Bezirk interpretiere ich dies als einen Akt der Solidarität. Die Frage, ob dies mit dem in der Regel nicht-privilegierten Weddinger zusammenhängt oder mit der Pfandflasche, ignoriere ich, wie so oft im Leben, wenn es um Liebe geht.

 

Zwischenhalt: U-Weinmeisterstraße – Welcome to confession: capitalism

Unfreiwillig denke ich an mein Verhalten in Berlin-Mitte. U-Weinmeisterstraße: Ich warte. Ein älterer Mann, den man (in einer stigmatisierenden Sprache gefangen) als „ungepflegt“ beschreiben würde, lächelt mich an. Ich passe mich zwar nicht an, wenn es um vermeintlich gute Verhaltensweisen geht, jedoch tue ich das umso mehr im gegenteiligen Sinn: Wie eine Mittefrau, die nicht wahrhaben möchte, dass man mit Mitte 40 mittelalt ist, ist der Mann auf dem Bahnhof von mir auf der Seite der „Anderen“ abgespeichert, schließlich ist er ja „ungepflegt“. Wir sind wie zwei Cowboys auf dem U-Bahnhof. Wir schauen uns an und laufen langsam aufeinander zu, ich halte an meiner Tasche fest. Ich schau ihn böse an, so wie man Menschen halt anschaut, wenn man sie als „ungepflegt“ einstuft, vorausgesetzt man schaut sie überhaupt an. Er lächelt mich an. Irgendwie sexistisch, denke ich. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragt er. „Nein, Danke.“ sage ich im nasalsten Ton. Nein, mein Herr, wer so über sie denkt, dem kann nicht geholfen werden“,  denke ich beschämt dabei. Ich versuche wie ein Katholik meine Sünden mit Geld zu begleichen. Welcome to confession: capitalism. Der Weddinger Wind der Solidarität verwandelt sich in Mitte zur Übergabe der Machtlosigkeit. Wer die Flasche hat, hat nicht die Macht.

Wieder einmal bin ich froh, mir diese kapitalistisch-katholische Denkweise angeeignet zu haben. Denn ich weiß, als Muslimin, darf ich nur das eine Spende nennen, was ich gebe und gern behalten würde.

 

Am Kutschi und überall dreht es sich um Pfandflaschen

Mittlerweile bin ich schon am Kutschi angekommen, wo nicht die Vögel im Frühling einem über den Kopf fliegen, sondern Flugzeuge, die einen*einer jegliche Petition gegen den Flughafen Tegel unterschreiben lassen würden. Eine Frau drückt mir einen Flyer in die Hand: „So wie ein Krankenhaus immer geöffnet ist, sind auch wir 365 Tage für Sie da!“ Ich werde das Gefühl nicht los, dass sich alles um Pfandflaschen und ihre Sammler*innen dreht, seitdem ich das Haus verlassen habe. Sind es doch häufig sie, die in Krankenhäusern Patient*innen sind. Die Kirche möchte ihnen helfen. Wie denn? Gehen Sie etwa Sonntags mit ihnen zum Pfandflaschen sammeln?

 

Die neuen Tonnen am Flughafen

Am Flughafen frage ich nach Sammler*innen. Sie wären überall am Flughafen aufzufinden, teilt man mir mit. Der Mitarbeiter verweist auf die Mülltonnen. Ich erkenne sie wieder, die vom Bahnhof Friedrichstraße. Setze ich die Brille der weißen Mittelschicht auf, dann könnte ich die Tonnen und ihre Form mit den Stichworten Einheitlichkeit-Harmonie-Bauhaus-Ästhetik erklären. Setze ich die Brille des Habitus der Notwendigkeit auf, dann wird klar: in diese Tonnen kann man nicht einfach die Hand hineinstecken. Die Öffnung ist zu eng. Dazu fällt wenig Licht ein, man bräuchte eine Taschenlampe, um in die Tiefe zu greifen. Der Mitarbeiter sagt: „Verglichen mit den alten [Tonnen], kann man hier auch nicht mehr von außen sehen, ob sie voll sind oder nicht.“ Auf die neuen Mülltonnen werde ich an dem Tag mehrmals von den Mitarbeiter*innen hingewiesen. Ebenso darauf, dass sie die Pfandflaschensammler*innen bitten müssen, den Flughafen zu verlassen. Entweder sind die Sammler*innen unsichtbar oder sie sind wie ein Dorn im Auge. Keine der beiden Perspektiven macht sie anscheinend weniger gefährlich, denn die Sicherheitsleute sind stets im Doppelpack anzutreffen. Die Sammler*innen jedoch sind immer allein.

Ich frage mich, was mit den unzähligen Flaschen passiert, die am Flughafen weggeworfen werden, was passiert, wenn die Sammler*innen sie nicht haben dürfen. Sie werden nicht weggeworfen. Über den genauen Ablauf weiß hier niemand Bescheid. Es wissen aber alle, dass damit Geld gemacht wird. Das passt, denke ich mir, in eine Welt, die nach dem Matthäus-Prinzip funktioniert. “Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ Der arme Weddinger kann seine Pfandflaschen sogar bei der Abgabe im Supermarkt ganz altruistisch spenden, während der Flughafenbetreiber als homo oeconimus agiert.

Die Mitarbeiter*innen, die sich schon mit einigen Sammler*innen unterhalten haben, berichten mir über die Gründe des Sammelns.
Grund: Die Sammler*innen wollen ihre Familien unterstützen.
Strategien: Mittlerweile kommen sie mit Koffern angerollt, so dass man sie nicht mehr von den Passagieren unterscheiden kann. Eine weitere Strategie ist es, in die Mülltonnen zu schauen, wenn der Sicherheitsdienst seinen Schichtwechsel hat.
Typen: Der Schnelle, der kommt nur morgens. Mit einer Sporttasche. Der Rollstuhlfahrer. Der Reisende, der seinen Flug verpasst und sein neues Ticket mit Flaschensammeln bezahlt.

 

Am Check-In

Immer noch kein*e Sammler*in in Sicht… Ich setze mich neben eine Tonne. Neben meinem Sitz steht eine Pfandflasche. Eine Frau, Typ Marco Polo und Dutt, läuft auf die Flasche zu und steckt sie in die Tasche. Ich frage sie, ob ich sie interviewen darf. Sie fragt mich entrüstet, ob sie wie eine Sammlerin aussehe. „Stimmt!“, antworte ich mit meinem resting bitch-face, „Wir sind ja am Check-In Zürich-Goteborg-Helsinki.“

So langsam verliere ich die Hoffnung. Ich lasse mir noch so einiges von diversen Mitarbeiter*innen erzählen, zum Beispiel, dass es Bandenkriege am Flughafen gibt. Das macht Sinn. Machtlose führen ihre Kriege im öffentlichen Raum. Hier haben sie Macht, die einzige Macht, die sie sich durch hartes Training des Bizepses und bösen Blickes erkämpft haben, physische Macht.

 

Mein Gespräch mit Marek

Ich treffe nach zwei Stunden einen Sammler an. Marek aus Polen. Mein gebrochenes Wedding-Polnisch, sein gebrochenes Englisch, unsere Hände und unsere Augen lassen uns die Fragen und Antworten verstehen. Er verdient ungefähr 50 Euro pro Tag. Für die Familie.

Ein zweiter Sammler kommt vorbei, geht aber schnell wieder. Als ich ihn doch noch erreiche, sagt er, er nehme weder Drogen noch Alkohol. Dann gesteht er, jeden Tag so viel zu sammeln, dass er zwei Dosen Bier und seine Zigaretten kaufen kann. Manchmal spiele er auch Lotto. Ob seine Mutter weiß, was er hier mache, frage ich ihn. Nein, sie denkt, er arbeite auf dem Bau.

Während wir uns unterhalten, sehe ich einen weiteren Sammler eine Flasche einstecken. „Kollege, wollen wir uns ein wenig unterhalten?“ frage ich ihn, aber er will nicht reden. Ich bedanke mich bei Marek für das Gespräch. Dziękuję, Marek.

Bilddiewahrerinda CC