* Beitrag von Võ Thị Mai Trang *

 

Rot. Orange. Feuer – Vor meinem inneren Auge, wenn ich an Wut denke. Ich kann Wut gut denken. Ich kann Wut nicht gut fühlen. Früher habe ich immer gedacht, dass Wut nichts Gutes ist. Ich habe wütende Leute gesehen und als Kind hat es mir Angst gemacht. Und danach hat es mich überfordert. Dass ich so viel Angst vor der Wut anderer habe, hat wohl mit der Angst vor meiner eigenen Wut zu tun. Die Wut der anderen hat große Macht. Es fühlt sich so an, als ob die Wut der anderen sich ihren Weg strömend, wuchtig, bedrohlich und unausweichlich ihren Weg bahnt.

 

Meine Wut bahnt sich keinen Weg nach außen, sie richtet sich fast nur gegen mich. Sie gehört nur mir. Darf ich wütend sein? Auf andere?

 

Bilder von Wut kommen mir in den Kopf: Dann sehe ich einen alten Mann im Anzug in seinem gläsern-glatten Corporate Büro mit bester Sicht auf die Skyline. Sein Kopf läuft rot an und vielleicht würde er spuckend schreien „Sie sind gefeuert!“ oder Bilder der unheimlichen Göttin Kalypso aus Fluch der Karibik, die von ihrer Gestalt als normale Frau in die Höhe wächst, von Unwetter und Blitzen umgeben ist und deren Stimme auf einmal unverständlich tief und grollend wird. Sie ist dann keine Frau mehr, ihre Wut verwandelt sie in ein finsteres Ungeheuer. Und alle haben nur noch Angst. Ich lasse meine Wut nicht zu, weil ich kein Ungeheuer sein will und auch nicht, dass andere vor mir Angst haben.

 

In Situationen, in denen ich spüre, wie die Wut aufkommt, drücke ich sie sofort zurück in meine vermeintliche Dunkelheit. Sie muss dem Verständnis weichen. Es scheint, als ob mein Verständnis für jemand anderen fast grenzenlos ist, wenn ich will. Man muss es sich nur erarbeiten wollen. Dann erarbeite ich mir Verständnis für den anderen Menschen und er muss nichts dafür tun, kann sich zurücklehnen, eventuell wütend sein und wütend bleiben – ich finde für ihn heraus, warum er sich so verhalten hat. Weil ich dann Verständnis für die Hintergründe aufbringe, kann ich – darf ich ja nicht mehr wütend sein. Denn es ist ja nachvollziehbar. So gebe ich der anderen Person den Raum ganz frei zu sein, ganz frei zu handeln, frei zu fühlen, denn sie kann sich darauf verlassen: auch wenn sie einen Fehler macht oder sich unfair benimmt und es nicht erklären kann – ich werde schon verstehen. Ich werde erklären.

Ich wünschte, ich würde manchmal weniger verstehen.

 

Ich versuche zu verstehen, weil ich die Wut nicht aushalte. Wohin damit?

Ich weiß nicht, wo ich sie aufbewahren soll. Sie würde im Bauch anfangen, mir in den Kopf steigen. Mir würden Wörter auf meine Zunge purzeln, die ich nicht erklären kann und damit würde ich etwas kaputt machen. So stelle ich mir meine Wut vor. Darf ich Wut äußern, auch wenn ich dafür keine Lösung weiß? Ich habe lange nicht verstanden, dass es in der Wut verschiedene Prozesse gibt.

 

Erstens Wut zulassen und akzeptieren.

Zweitens Wut reflektieren und damit umgehen.

Drittens… ist Wut also nicht gleich andere Leute anschreien und beleidigen?

 

Ich kenne meine Grenzen nicht. Besonders nicht mit Menschen, die mir wichtig sind. Da gibt es fast keine Grenzen mehr. Und da weiß ich am wenigsten wohin mit der Wut. Wo ist die Grenze? Wo ist Schluss? Das habe ich auch andere Leute gefragt. Woher weiß man, dass Schluss ist? „Das fühlt man dann“ haben sie gesagt. Aber im Nachhinein denke ich, ich habe „das“ nicht gefühlt. „Das“ wäre meine Wut gewesen und die wollte ich ja nicht fühlen.

 

Erst vor kurzem habe ich herausgefunden, dass Wut helfen kann. Wut zeigt mir, wo meine Grenzen sind. Wo sie erweitert werden wollen oder nicht übertreten werden dürfen und mich schützen. Mit meiner Verständnisfähigkeit übernehme ich sehr viel Verantwortung für meine Mitmenschen und verliere meinen Standpunkt im Verständnismeer. Ohne Grenzen gibt es keine Freiheit, sondern nur verloren sein. Vielleicht möchte ich anfangen, mir und anderen meine Wut zuzutrauen. Ich will ein bisschen mehr von meinen verständnisvollen Kompromissen loslassen. Vielleicht sind sie eh nur ein Versuch, die Kontrolle im Zwischenmenschlichen zu behalten.

 

Am Ende sind sie ja auch keine Kompromisse. Denn das Charakteristische eines Kompromisses befindet sich inmitten zwei verschiedener Standpunkte. Wenn ich meinen Standpunkt für das Verständnis aufgebe, gibt es nur noch den anderen Standpunkt. Ich will mich nicht immer nur einfach mit der Situation arrangieren, ohne dass sich etwas ändert. Vielleicht muss ich lernen, dass Wut kein alter Mann mit rotem Kopf oder ein mythisches Ungeheuer ohne Stimme ist. Vielleicht kann Wut eine Freundin sein, die auf mich aufpasst, wenn ich sie besser kennenlerne. Mit der ich herausfinde, was mir wichtig

ist, wer ich bin und wer ich nicht bin.

 

Anmerkung: Inzwischen gibt es einen Kurzdokumentarfilm basierend auf diesem Text hier.

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