Nach dem Verbrechen in Solingen am 26. August 2024 wurde die Diskussion über Migrant*innen noch schärfer, und das Gefühl der Dringlichkeit – im Sinne, dass etwas dringend unternommen werden muss – breitete sich über die politischen Parteien hinaus auf die gesamte Gesellschaft aus. Dieses Gefühl war schon vor dem Verbrechen vorhanden, da das Thema Migration und Flucht, sowie Debatten um sogenanntes „Schein-Asyl“ den öffentlichen Diskurs im Vergleich zu anderen gesellschafts- und politisch relevanten Themen dominierte.
Die AfD war nicht mehr die einzige Akteurin mit solchen Forderungen, da die dominierenden Parteien sowohl aus der Koalition als auch aus der CDU-CSU-Fraktion ihre Rhetorik zu Migration übernommen haben. Aus Angst vor den Erfolgen der AfD bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen wurde die Lösung in einem noch intensiveren Wettbewerb um Abschiebungsrhetorik gefunden. Dazu sagte Alice Weidel, völlig zu Recht: Die Politik, die sie jetzt propagieren, vertreten wir schon seit Jahren.
Nach dem Verbrechen in Solingen konnte der Wettbewerb nicht mehr auf den Austausch von Worten und Versprechungen reduziert werden, jetzt mussten konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um die Ernsthaftigkeit der Absichten der Regierung zur Lösung des „Migrationsproblems“ zu beweisen. Die Vorbereitungen für das Sicherheitspaket, die in Solingen begannen, dauerten bis Oktober 2024, als es schließlich im Bundestag verkündet und beschlossen wurde.
Dem ging jedoch eine kurze Pause voraus. Die Pause des 3. Oktobers. Ein Moment der kollektiven Ruhe von der spalterischen Diskussion und der Notwendigkeit, vermeintliche Sicherheit zu gewährleisten. Als die Gesellschaft an die Wiedervereinigung Deutschlands erinnert werden sollte und dieser Tag gefeiert wurde. Verschiedene Konzerte, Ausstellungen, Gespräche, Feuerwerke und öffentliche Zeremonien – all das, um den Gedenktag an die Einheit zu markieren.
In diesem Moment fragte ich mich, während ich an einer Veranstaltung zur Wiedervereinigung teilnahm: Gehört auch uns hier ein Platz? Ist hier ein Platz für diejenigen, die als Migrant*innen die Begeisterung der Wiedervereinigung miterlebt haben? Oder für diejenigen, die hier seit Jahren leben und hier geboren wurden? Diese Frage muss ihnen gar nicht gestellt werden, da die Antwort aus dem dominanten Narrativ über die Wiedervereinigung gezogen werden kann.
Die Narrative über die Vergangenheit spiegeln nicht nur die faktische Vergangenheit wider (das am Wenigsten), sondern vor allem die aktuelle gesellschaftspolitische Stimmung sowie normative Vorstellungen, die das gewünschte Bild der Gesellschaft in der Zukunft widerspiegeln.
Daher sollte dieses Datum eher ein Startpunkt oder ein Wendepunkt im Vereinigungsprozess sein, ist es doch ein unvollendeter Prozess: Woran muss noch gearbeitet werden, wer muss noch vereinigt sein, wer ist von der vorherrschenden Erzählung über die Vereinigung ausgeschlossen, das heißt, wer wird bei der Berechnung der Einzigartigkeit (nicht) mitgerechnet?
Von der Vereinigung zur Verdrängung: „Wir sind das Volk“
Der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 als symbolische Verwirklichung der Voraussetzungen für die Wiedervereinigung, der 3. Oktober 1990, der Tag der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens als endgültiger Beginn der Wiedervereinigung, und danach das Ringen um das, was das alles bedeutet: Wer vereinigt sich mit wem und wer sind wir?
Die ersten, die sich ausgeschlossen wurden dabei mitzusprechen, waren Migrant*innen, die seit Jahren sowohl in der DDR als auch in der BRD lebten. Noch vor den Ostdeutschen erlebten die Migrant*innen den Schock der Liberalisierung der Planwirtschaft und der wirtschaftlichen Integration, indem sie aufgrund von Betriebsschließungen zuerst entlassen wurden. Was sie mit diesem ersten Schlag erlebten, sollte später auch den meisten anderen Bürger*innen in der gesamten ehemaligen DDR widerfahren.
Der nächste Schritt im Vereinigungsprozess war die Aufhebung der Verträge, die die ehemalige DDR mit Drittstaaten über Vertragsarbeiter*innen geschlossen hatte. Eine große Zahl von Menschen wurde gezwungen, das nunmehr vereinte Deutschland zu verlassen, da ihre rechtliche Grundlage für den Aufenthalt (auf der Basis eines internationalen Abkommens) im neuen rechtlichen und politischen Kontext nicht mehr gültig war. Vor dem Fall der Berliner Mauer lebten etwa 90.000 Migrant*innen auf dem Gebiet der DDR; bis 1992 war diese Zahl auf weniger als 20.000 gesunken (Bröskamp, 1993: 15).
Es scheint, dass diejenigen, die ein ethnisches Verständnis des Volkes hatten, am schnellsten die Frage „WER IST DAS VOLK?“ beantworten konnten. Ihre Schnelligkeit zeigt sich jedoch nicht darin, dass sie plötzlich auftauchten, als hätten sie vorher nicht existiert oder als kämen sie ausschließlich aus einem ehemaligen kommunistischen Staat, sondern vielmehr in der Kontinuität ihrer Existenz sowohl in der DDR als auch in der BRD als auch zuvor. Die Konsequenz dieses ethnisch-homogenen Verständnisses des Volkes führte zu weit verbreiteter Gewalt gegen alle, die nicht als ethnisch deutsch wahrgenommen wurden.
Eines dieser Verbrechen ereignete sich in Solingen am 29. Mai 1993. Bei diesem Verbrechen wurden drei Mädchen und zwei Frauen mit türkischen Wurzeln von Neonazis getötet. Die Neonazis setzten das Haus indem die Familie lebte in Brand. Dieses Verbrechen sowie die Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen (1992) und Hoyerswerda (1991) fanden vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung und der zunehmend intensiveren Diskussionen über die Einschränkung des Asylrechts und über sogenannte „Scheinmigranten“ statt, die angeblich nur finanziellen Vorteile und keinen Schutz suchen würden.
Es darf nicht vergessen werden, dass sich in dieser Zeit auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland antifaschistische Gruppen organisierten, die sich entschieden gegen die zunehmende Gewalt der Nationalist*innen wehrten und die vorherrschende Antwort auf die Frage, wer das „erklärte Volk“ (im ethnischen Sinne) sei, nicht akzeptierten.
Drei Tage vor der Tat in Solingen, am 26. Mai 1993, fand im Bundestag eine entscheidende Diskussion über Einschränkung des Asylrechts statt. Diese Debatte führte zur Reform des Artikels 16 des Grundgesetzes, der das Asylrecht regelt, wobei die Konzepte der „sicheren Drittstaaten“ und der „sicheren Herkunftsstaaten“ eingeführt wurden. Hauptverantwortlich für diese Politik war die CDU, die schon vor dem Mauerfall und vor allem danach verstärkt eine Einschränkung des Asylrechts forderte. Dieser Wunsch, Migrant*innen nicht zu dauerhaften Bewohner*innen werden zu lassen, spiegelt sich auch in dem Vorschlag von Helmut Kohl bzw. der CDU wider, bereits 1983 ein Gesetz (das Rückkehrhilfegesetz) einzuführen, das Ausländer*innen, insbesondere aus der Türkei, zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer bewegen sollte.
Zwar gab es Gewalt gegen Migrant*innen auch schon vor dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung, aber das, was diese Zeit qualitativ unterscheidet, ist ein Diskurs, der die Gewalt versucht als nachvollziehbar darzustellen und dadurch legitimiert. Es wirkt wie eine Erklärung, die die Gewalt zu verurteilen versucht, dann jedoch hinzufügt: „Aber“, „das Boot ist voll “ und das Asylrecht wird „missbraucht“. Zu Recht schlussfolgert Professor Christopher A. Molnar: „Wie die tödlichen Angriffe in Mölln und Solingen deutlich zeigten, entfachte die Kampagne der CDU/CSU zur Einschränkung des Asylrechts ausländerfeindliche Stimmungen, die sich nicht nur gegen Asylsuchende richteten, sondern auch gegen andere Ausländer, insbesondere Türken, die bereits mehr als ein Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung eine stigmatisierte Gruppe in Deutschland waren.“ (2021: 506)
Hier muss betont werden, dass der Anschluss Ostdeutschlands nicht, wie manche behaupten, den Beginn der Probleme mit Nationalismus und Gewalt markiert. Diese Probleme existierten bereits sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zuvor, aber die Wiedervereinigung schuf einen Kontext, in dem diese Gewalt (erneut) legitimiert wurde.
Statt den östlichen Teil Deutschlands als ein rückständiges politisches Subjekt zu betrachten, das auch heute noch dem demokratischen Geist widerspricht, der angeblich aus dem westlichen Teil des Landes stammt, ist eine kritische Reflexion über das dominante Narrativ der Wiedervereinigung notwendig. Die Erzählung von einer friedlichen und demokratischen Wiedervereinigung blendet viele Erfahrungen aus – sowohl von Migrant*innen als auch von diversen Ostdeutschen.
Natürlich, obwohl es innerhalb ihrer Erfahrungsbereiche Unterschiede gibt, muss man auch die wesentlichen Gemeinsamkeiten in bestimmten Erfahrungen bei der Entstehung des vereinten Deutschlands anerkennen. Das Ignorieren der Geschichten beider Seiten führt zu unterschiedlichen Konsequenzen, die heute besonders sichtbar sind.
Vom Asylkompromiss zum Sicherheitspaket: Wer sind wir?
Wenn wir danach streben, dass unsere Gesellschaft auf unterschiedlichen Wurzeln beruht, dann muss das Reden über die Wiedervereinigung auch diejenigen mitzählen, die bisher nicht mitgezählt werden. Obwohl heute im medienpolitischen Diskurs hier und da über die Erfahrungen der Ostdeutschen gesprochen wird, hört man fast nie, was damals mit Migrant*innen geschah.
Ein kritischer Blick auf all das, was die Wiedervereinigung Deutschlands vereint hat, bietet die Möglichkeit, dieses Datum inklusiv zu gestalten und zu einem Feiertag für alle Menschen in Deutschland zu machen. Der Tag der Deutschen Einheit hat zwar zu einem historischen Bruch geführt, aber er hat auch die Frage aufgeworfen: Wer ist dieses Volk? Wer vereinigt sich mit wem, und wer kann an diesem Prozess beteiligt werden? Durch das Erinnern an unterschiedliche Geschichten und deren Einbeziehung in die Erzählung über die Vergangenheit der Vereinigung werden Bedingungen geschaffen, um die Vereinigung als einen ständigen Aushandlungsprozess und ihren unvollendeten Charakter zu betrachten.
Die Art und Weise, wie im politischen und medialen Diskurs über den Angriff in Solingen im August 2024 über Migrant*innen gesprochen wurde, ist ein Symptom für eine gefährliche Kontinuität, in die sich unsere Gesellschaft weiterhin bewegt, und erinnert zunehmend an die Diskurse der frühen 1990er Jahre. Vergleicht man die Bundestagsdebatten von 1992 oder 1993 mit den heutigen Debatten, lässt sich feststellen, dass die Rhetorik im Vergleich zur Nachwendezeit noch schärfer geworden ist. Der derzeitige Diskurs stellt die Idee einer Gemeinschaft, die nicht auf Ethnizität beruht, stark in Frage.
In einem im Juni diesen Jahres veröffentlichten Text beschreibt Kenan Malik deutlich eine Veränderung im politischen Feld: Mainstream-Politiker*innen, die angesichts solcher politischer Neuausrichtungen in Panik geraten, haben sich viele Themen der extremen Rechten zu eigen gemacht. Von der Masseninternierung und Abschiebung von undokumentierten Migrant*innen bis hin zur Forderung nach Offshore-Verarbeitung (d.h. die Verlagerung des Ortes für Entscheidungen und die Bearbeitung von Asylanträgen ins Ausland, an entfernte Orte oder in andere Staaten – wie zum Beispiel im Fall von Albanien oder Ruanda). Maßnahmen, die einst nur von politischen Randgruppen vertreten wurden, sind nun zur alltäglichen Politik der Mitte geworden.
Wenn wir uns daran erinnern, was nach der Wiedervereinigung geschah, stellen wir fest, dass es damals ähnliche Interaktionen zwischen der Gesellschaft und den führenden politischen Parteien gab, die zur Normalisierung rechtsextremistischer Einstellungen führte. In diesen Jahrzehnten verloren viele Menschen ihr Leben, und der Verfassungsartikel, der das Recht auf Asyl definiert, wurde geändert. Heute beobachten wir in der Interaktion zwischen Parteien und Gesellschaft eine vergleichbare Dynamik, bei der radikalere Forderungen zunehmend zur Normalität werden – alles unter dem Vorwand, die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten. Aber was für eine Sicherheit und für wen?
Wenn wir uns erinnern, wie das Jahr 2024 gesprochen wurde, insbesondere während der Wahlen in den drei deutschen Bundesländern, dann wird der diskursive Wandel insbesondere am Diskurs nach Solingen 2024 sehr deutlich.
Der einmal von den rechten Parteien akzeptierte Diskurs wird nicht so leicht aufgegeben werden, da wir uns darauf eingelassen haben, auf ihrem Terrain zu spielen. Der beste Beweis sind die vorgezogenen Bundestagswahlen und die politische Kampagne, vor allem der CDU-CSU, in der es zu einem Wettbewerb der immer extremer werdenden Forderungen in Bezug auf Abschottung und den Entzug des Asylrechts kommt.
Die 1990er Jahre haben uns einmal mehr gezeigt, dass die Schwächsten zuerst leiden, gefolgt von allen anderen. Die Erzählweise des „Sicherheitspakets“, das alle Migrant*innen als potenzielle Verbrecher*innen markiert, verstärkt und zementiert dieses Narrativ der Vereinigung, dass bereits in den neunziger Jahren Gewalt produzierte und legitimierte. Der politische und mediale Diskurs, der während der aktuellen Bundestagswahlkampagne präsent ist, verharmlost rechtsextreme und rassistische Forderungen, die einst extrem waren, und formt diese hin zu vermeintlich bürgerlichen Bedürfnissen um „Sicherheit“.
Der Kampf um das Gedenken, hängt zusammen mit dem Kampf um eine gesellschaftliche Identität. Diese Kämpfe begannen auch mit dem Fall der Berliner Mauer und erreichen jetzt weitere Höhepunkte. Die faktische Realität Deutschlands als Einwanderungsland sowie die normative Vorstellung von einer gerechteren Gesellschaft erfordern eine Pluralisierung des Diskurses über die deutsche Wiedervereinigung, sodass neue Formen von Widerstand, Zusammenhalt und Solidarität gedacht werden können. Ostdeutsche und Migrant*innen haben viel gemeinsam, und ihre Frustration kann transformativ wirken.
„Wir sind das Volk?“ Wer ist es (nicht)? Wir werden es dieses Jahr sehen, wenn wir 35 Jahre Wiedervereinigung feiern.
Quellen:
- Bröskamp, Bernd: Vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland: die DDR, ihre Ausländer, die deutsche Wiedervereinigung und die Folgen. In: Bröskamp, Bernd; Farah, Ahmed; Engelhardt, Eva (Hrsg.): Schwarz-Weiße Zeiten: AusländerInnen in Ostdeutschland vor und nach der Wende. Erfahrungen der Vertragsarbeiter aus Mosambik. Interviews – Berichte – Analysen. Bremen: Informationszentrum Afrika e.V. (IZA), 1993, S. 13–34.
- Molnar, Christopher A.: „Greetings from the Apocalypse: Race, Migration, and Fear after German Reunification“. In: Central European History, Bd. 54, Nr. 3 (2021), S. 491–515.
- Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern. Drucksache 10/351, Deutscher Bundestag, 22. März 1983. Verfügbar unter: dserver.bundestag.de/btd/10/003/1000351.pdf (Zugriff am: 27. November 2024).
- Rosa-Luxemburg-Stiftung: Erinnern Stören #1. Auseinandersetzungen mit Rassismus, Nationalsozialismus und rechter Gewalt. Verfügbar unter: www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren-1 (Zugriff am: 27. November 2024).
- The Guardian: Far-right policies don’t become palatable just because mainstream politicians adopt them. 16. Juni 2024. Verfügbar unter: www.theguardian.com/commentisfree/article/2024/jun/16/far-right-policies-dont-become-palatable-just-because-mainstream-politicians-adopt-them (Zugriff am: 27. November 2024).
- C-SPAN: Asylum Law Reform. 12. Juni 1995. Verfügbar unter: www.c-span.org/video/?41738-1/asylum-law-reform (Zugriff am: 27. November 2024).