Ein Gedicht von Erina zum Thema „Rassismus“:

Etwas mehr als ein halbes Jahr arbeite ich jetzt hier. Also nicht hier! Wir sind gerade auf einem kleinen Jugendbauernhof, irgendwo in Sachsen-Anhalt. Es sind Herbstferien und ich bin mit meiner Kollegin und 15 Kindern und Jugendlichen auf unserer ersten „Mädchen*reise“.

Ich arbeite bei LiSA e.V..

„LiSA“ steht für „Laden für interkulturelle Sozialarbeit“. Unser Verein betreibt zwei Einrichtungen: den Mädchen*- und Frauen*laden „Naya“ am Spandauer Damm sowie „Jackie“, das mädchen*orientierte Freizeitgelände am Jakob-Kaiser-Platz. Der Mädchen*laden „Naya“ ist ein offener Treffpunkt für Mädchen* und junge Frauen* unterschiedlicher kultureller Herkunft im Alter von 6 – 27 Jahren.

Zu einem festen Angebot wie Hausaufgabenbetreuung, Tanz und Gesang bieten wir auch offene Gespräche und eine vertrauliche Atmosphäre sowie Workshops zu ausgewählten Themen an. Die Interessen und Lebenswelten der Besucher*innen bilden sich in allen Räumen der Einrichtung ab. Zusätzlich zum pädagogischen Angebot in unseren Einrichtungen machen wir Gremien- und Netzwerkarbeit und vertreten die Interessen der Mädchen* und jungen Frauen* auf politischer Ebene.

Jetzt stehe ich also hier. Mitten auf einer großen Wiese. Hinter mir blöken Schafe und wiehern Pferde. Den Tieren wird momentan aber nur wenig Beachtung geschenkt. Der Fokus liegt hier nämlich auf Diana. Diese erzählt uns nämlich, dass sie ein obdachloser, junger Mann ohne Perspektive ist. Direkt, nachdem Muskan uns erzählt hat, dass sie eine erfolgreiche Unternehmerin ist. Muskan steht ganz weit vorn… Diana ganz hinten. Für Außenstehende muss das ein seltsames Bild abgeben. Für uns jedoch nicht. Wir sind mitten in einem Privilegien-Wettlauf.

Zu Beginn des Spiels haben wir viel über Privilegien gesprochen. Was ist das eigentlich? Schon einmal etwas von Chancengleichheit gehört? In ihrer noch kurzen Biografie mussten sich unsere Besucher*innen schon mit vielen Themen und Dingen herumschlagen. Dass Menschen in der Gesellschaft, in der sie leben, privilegierter sind als andere, das wissen sie längst. Erfahrungen mit institutionellem und antimuslimischen Rassismus und Sexismus sind bei vielen an der Tagesordnung. Deshalb ist „Naya“ für viele Besucher*innen eine wichtige Anlaufstelle. Hier können sie über ihre Erfahrungen sprechen und sich austauschen, ohne auf Mitleid zu stoßen. Hier sprechen wir auf Augenhöhe über Erfahrungen, die wir alle sammeln und lernen sie zu benennen und gleichzeitig Strategien zu entwickeln.

Zurück zum Spiel: Chancengleichheit… Im Grundgesetz heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiöser oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.

So viel zur Theorie… Um sich von ihrer eigenen Biografie abgrenzen zu können, hat jede*r Teilnehmer*in eine neue Identität erhalten und sich intensiv mit dieser auseinandergesetzt. Kleinere Übungen, um sich in diese neue Person hineinzuversetzen, bringen das Spiel voran. Nun geht der eigentliche Wettlauf los. Die Spieler*innen wissen nicht, welche Identität die anderen Mitspieler*innen haben. Ich lese Fragen vor. Einige so banal, dass ich selbst nur sehr selten darüber nachdenke, ob das ein Privileg für mich darstellt. „Ich kann jederzeit Freund*innen zu mir nach Hause einladen“. „Wenn ich krank bin, erhalte ich notwendige Medikamente.“ Oder auch: „Ich fühle mich sicher.“. Bei jeder Aussage, die die Mitspielenden mit „Ja“ beantworten können, dürfen sie einen Schritt nach vorn. Schon nach den ersten Runden fällt auf, dass sich eine Distanz zwischen den einzelnen Rollen aufbaut. Diese wird auch nicht kleiner im fortlaufenden Spiel. Ich spüre wie sich bei den „Überflieger*innen“ eine gewisse Anspannung aufbaut, mit jedem Schritt, den sie nach vorne gehen und zurückblicken. Fragende Blicke werden ausgetauscht. Bei den Hinteren baut sich eine Art Frustration auf… es wird fast langweilig nicht richtig mitspielen zu können. Nach Abschluss aller Fragen öffnen wir das Spiel für Austausch und Bemerkungen an die Mitspielenden. Die 14-jährige Muskan, die ganz vorn steht, äußert: „In der Rolle fühle ich mich gut, dass ich so erfolgreich bin, auch wenn es seltsam ist, dass alle anderen hinter mir stehen, aber als Muskan fühlt es sich nicht gut an anzusehen, dass alle anderen hinter mir sind.“

Ich bekomme eine Gänsehaut und zwar nicht wegen der kühlen Luft.

Nun fragen die Mädchen* sich gegenseitig. „Warum stehst du so weit hinten?“. Die 12- jährige Sila antwortet: „Ich habe mich in meiner Rolle dazu entschlossen ein Hijab zu tragen… Ich weiß, dass ich es dadurch schwieriger habe eine Wohnung zu finden. Ich darf auch nicht mehr jeden Job ausführen. Das hat mich daran gehindert weiter nach vorne zu kommen.“ Viele Mitspielende nicken. „Ich kenne das von meiner Mutter.“, wirft die achtjährige Lia ein. Eine Diskussion beginnt, aus dem meine Kollegin und ich mich weitestgehend heraushalten. Die Mitspieler*innen hinterfragen das Konstrukt der sogenannten Chancengleichheit und reflektieren es. Plötzlich finden wir uns in einer Diskussion über Hartz-IV-Empfänger*innen wieder. Die 16- jährige Zehra sagt: „Ich habe wenig Verständnis für Langzeit-Arbeitslose… Es gibt so viele Jobs, die man machen könnte, während andere sich den Arsch aufreißen.“ „Aber meine Rolle ist auf Hartz IV angewiesen. Ich bin eine arbeitslose, alleinerziehende Mutter ohne Kitaplatz.“, antwortet Elina. „Ich kann auch nicht arbeiten gehen, ich bin doch obdachlos.“, bringt Diana mit ein. Die Debatte geht weiter. Was ist mit Menschen, die einen Beruf in ihrer Heimat gelernt haben, eventuell sogar studiert haben, aber dies hier nicht anerkannt wird? Auch das kennen einige unserer Besucher*innen.

Mittlerweile beginnt es zu dämmern. Wir „spielen“ jetzt schon seit über einer Stunde. Nur ungern bringen wir uns wieder in die Diskussion mit ein. Wir finden es wichtig, dass die Spieler*innen diese neue Rolle wieder abstreifen und in ihre eigene Identität zurück schlüpfen können.

Kurze Zeit später im Speiseraum geht die Diskussion aber weiter. Ein Mädchen* berichtet, wie hart sie das Urteil vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) getroffen hat, dass ein Arbeitgeber einer Mitarbeiterin aufgrund ihres Hijabs eine Kündigung ausgesprochen hat. „Das wir keine Lehrer*innen werden dürfen, das ist ja schon scheiße genug, aber dass wir jetzt auch jederzeit in allen anderen Berufen gekündigt werden können, das ist einfach nur unfair!“, einstimmiges Nicken aller Beteiligten. Die 13-jährige Sisi hört den ganzen Abend über ganz aufmerksam zu. Sie ist relativ neu bei „Naya“ und äußert, dass sie sich im Vorfeld noch nie Gedanken über Islamophobie oder die Benachteiligung beim Tragen eines Hijabs gemacht hat. „Ich bin halt Schwarz… bis jetzt musste ich mich immer damit auseinandersetzen, weil ich komisch angeguckt werde oder Leute einfach meine Haare anfassen wollen.“ Die anderen verstehen das. „Deswegen sind wir ja auch so krass! Weil wir alle zusammen gegen diese Ungerechtigkeit kämpfen.“, sagt Zeyneb. Alle stimmen mit ein.

Meine Kollegin und ich schauen uns in die Augen. Wortlos nicken wir uns zu und geben uns gegenseitig die Faust. Solche Tage sind in unserer Arbeit keine Seltenheit und trotzdem jedes Mal etwas Besonderes. Als ich vor einem halben Jahr anfing hier zu arbeiten, war mir nicht bewusst, wie viel Expertise die Besucher*innen des Ladens mitbringen. Jede ist so einzigartig und trotzdem verbindet uns so vieles. Für uns alle ist klar: Wir stehen nicht nur Hand in Hand um in einer patriarchalen Gesellschaft für unsere Rechte einzustehen. Uns ist klar, dass der Kampf für echte Chancengleichheit immer intersektional sein muss.

                  

Wer in unsere tägliche Arbeit reinschauen möchte, kann gerne unseren Instagram Kanal auschecken. IG: naya_maedchenladen

www.instagram.com/naya_maedchenladen/

*Die Namen aller Besucher*innen wurden geändert.