In diesem Essay geht es um die Position einer weiß gelesenen Person mit Migrationsgeschichte in der deutschen Gesellschaft. Zunächst einmal stellt sich die Frage gestellt, ob weiß gelesenen Personen dieser Raum, über die eigene Erfahrungen und Perspektive zu sprechen, zusteht, wenn es doch Menschen gibt, deren Leben tagtäglich von Rassismus eingeschränkt und sogar bedroht sind. Wenn, durch die Manifestation kolonialer Kontinuitäten in westlichen Gesellschaften und darüber hinaus, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe noch immer sterben. Doch Rassismus beginnt nicht erst dort wo Menschen physische Gewalt erfahren. Rassismus ist viel tiefer in uns und unseren gesellschaftlichen Strukturen verwurzelt. Wir haben mit genug Beispielen von rassistischen Bewegungen, Angriffen und Attentaten in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer wieder vor Augen geführt bekommen, welche Formen und Ausmaße Rassismus annehmen kann. Meistens ist Rassismus aber viel unsichtbarer, leiser und heimlicher. Er ist bei deutschen Daheim am Esstisch zu Weihnachten zu finden, wenn die Oma oder der Onkel äußerst fragwürdige Kommentare über Nachbar*innen oder Pfleger*innen of Color ablassen. Oder auch in der Schule, wenn die Lehrer*innen einfach keine Lust haben, Deinen Namen auch nur einmal richtig auszusprechen. Es gibt also Mechanismen, die ganz unterschwellig daherkommen aber auch ein Symptom dessen sind, was eigentlich Rassismus heißt, in der deutschen Gesellschaft aber wirklich ungern so genannt und vor allem gar nicht erst gesehen wird. Im Folgenden will ich einige dieser Mechanismen anhand eigener Erfahrungen reflektieren.

 

Meine Haut ist hell

Meine Haut ist hell, auch im Sommer wird sie kaum dunkler. Meine hellbraunen glatten Haare sehen aus wie die der meisten deutschen Frauen, die ich kenne. Ich bin weiß. So liest Du mich zumindest.

Auch mein Deutsch ist tadellos, ich habe keinen Akzent und verwende sogar den aussterbenden Genitiv korrekt. Ich bin Deutsch. Das ist nichts, was Du hinterfragen müsstest.

 

Ich, die Deutsche und mein Name, der Ausländer

Nach einigen Sätzen stelle ich mich Dir dann vor und mein Name verrät Dir, dass ich vielleicht doch nicht so bin, wie Du. Zur Sicherheit fragst du nach, woher mein Name denn kommt, als wäre er ohne mich hier angereist und hätte mich rein zufällig gefunden. Als wären mein Name und ich zwei Dinge, die du voneinander abstrahieren könntest. Ich, die Deutsche und mein Name, der Ausländer.
„Der ist persisch“, sage ich, wissend was nun folgt. In meinem Kopf spreche ich den Satz mit, den Du nun überrascht ausstößt, wie bei einem Film, den man das wievielte Mal auch immer anschaut: „Ohhhh, Du siehst ja gar nicht so aus wie eine Perserin! Aber jetzt wo du es sagst…Man sagt also nicht ohne Grund, dass Perserinnen die schönsten Frauen sind.“

 

Wie ein Kompliment…

Und obwohl ich diesen Satz, der wie ein Kompliment daherkommt, sich aber nicht wie eins anfühlt, höre seit ich denken kann, weiß ich noch immer nichts Besseres darauf zu antworten: „Haha, Ja.“ Obwohl ich also nicht mal aussehe, wie eine Perserin auszusehen hat, habe ich mein für dich attraktives Äußeres aber trotzdem meinen persischen, exotischen Genen zu verdanken. Alles klar.

„Und sprichst du auch Arabisch? Oder was spricht man in Persien?“. Heute habe ich keine Lust Dir zu erklären, warum es nicht mehr Persien heißt, warum man im Iran aber Persisch spricht und was der Unterschied zu Arabisch ist. Heute sehe ich über Deine Bildungslücke hinweg, da meine Freundin sowieso bald da sein müsste und unsere Begegnung dann eh in der Bedeutungslosigkeit zurückbleibt. Und so antworte ich einfach nur mit einem knappen „Nein, ich spreche kein Arabisch“.

 

Bist du aber auch Moslem?

„Bist du aber auch Moslem?“ …Eine durchaus plausible Frage, die sich Dir da stellt, fünf Minuten nachdem Du Dich hier in dieser Bar neben mich an die Theke gesetzt hast, um mich anzusprechen. Ich weiß genau, was diese Frage soll. Du willst nicht etwa mit mir über Gott und die Welt reden. Nein, ich habe Dich und Deine Schubladen, die meinetwegen wohl durcheinander geraten, durchschaut. Fast verzweifelt versuchst Du, in Erfahrung zu bringen, in welche dieser Schublade ich nun gehöre. Bin ich eine von Euch oder doch eine von den Anderen?

Das was hier gerade passiert, nennt sich Othering. Othering ist das Sichtbarmachen der „Anderen“ unter der Mehrheitsgesellschaft, durch das Herstellen und Aufrechterhalten von Stereotypen1. Dabei werden „die Anderen“ bzw. „die Fremden“ „in dominanter Perspektive in den Mittelpunkt gerückt. Verhandelt wird ihr ›Fremdsein‹ und ihre ›Differenz‹ zu dem ›Eigentlichen‹, ›Normalen‹, ›hier üblichen‹, das nicht zur Disposition steht.“2

Und so bin ich nun vor die Wahl gestellt: Bin ich eine von Euch oder eine der Anderen? Um eine von Euch zu sein, müsste ich mich aber selbst wohl verleugnen, wahrscheinlich sogar meinen Namen ändern. Denn antworte ich auf die Frage, woher ich komme, dass ich deutsch bin, kriege ich dann doch eh wieder ein „aber doch nicht ganz oder?!“ zurück. Nicht mal weiß sein und deutsch sprechen, ist also genug, um ganz als eine von Euch akzeptiert zu werden. Auf gar keinen Fall hätte ich aber eine von Euch sein dürfen, hätte der Zufall entschieden, dass ich ungefähr so viel Melanin wie meine Brüder abbekommen sollte. Dann wäre ich sichtbare Schwarzköpfin oder Kanackin geworden. So geht es vielen der über 21 Millionen Menschen mit Migrationsbiografien in Deutschland, denen diese Wahl auch nicht gegeben wird. PoCs und Schwarze sind sichtbar anders markiert und deshalb ständig allein aufgrund ihres Aussehens mit ganz anderen, mit rassistischen und bedrohlichen Situationen konfrontiert.

 

Der Klub der Mehrheit

Und obwohl ich das Privileg habe, nicht von vornherein von diesem Klub namens Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden und ein Stück weit entscheiden darf, wer ich sein möchte, ist die Wahrheit, dass ich es nicht kann. Meine Identität basiert eben nicht auf irgendeinem Nationalstolz oder einer Gruppenzugehörigkeit. Sie setzt sich aus vielen Fragmenten zusammen, z.B. den Werten, die meine Eltern mir vermittelt haben. So schreibt Max Czollek zurecht wir sollten uns

„stärker der inneren Fragmentierung bewusst werden, die jeden einzelnen Menschen ausmacht.“
– Max Czollek 2020: Desintegriert Euch!

Und so brauche ich – wie jeder Mensch in der Realität – viel mehr als diese eine Schublade, die Du mir zur Verfügung stellst. Aber die Tatsache, dass ich meine eigene Identität nicht wirklich definieren kann oder möchte, verrate ich Dir nicht.

 

Ohne Antwort – halb so wild.

Also musst Du Dich vorerst ohne Antwort abfinden. Aber halb so wild. Denn stattdessen erkennst Du schon eine ganz neue Chance in unserer Begegnung! Da ich ja zumindest äußerlich so bin wie Du, kannst Du mir wohl doch etwas vertrauen – das scheinst Du zu denken, als Du anfängst mir all diese Fragen zu stellen. All diese Fragen, die Du Dich nie trauen würdest meinen Brüdern zu stellen, denen man ihre Migrationsgeschichte mehr ansieht als mir. All diese Fragen, als würde ich nun plötzlich stellvertretend für alle Perser*innen dieser Welt sprechen. Du hältst mich für Deine Insiderin, die Dir alles beantworten kann, was Du schon immer mal über „Die“ wissen wolltest. Und so werde ich, nach zehn Minuten halbherzigem Flirten, schon wieder unfreiwillig zu Deiner kulturellen Geheimagentin erklärt.

Du, Du bist einfach ein*e Deutsche*r. Ich begegne Dir ständig in allen möglichen Situationen. Mal bist Du ein Vermieter, mal ein Date oder ein ehemaliger Lehrer, eine gute Freundin oder eine alte Dame im Bus. Und nie möchte ich Dich vor den Kopf stoßen. Es wäre mir wirklich unangenehm, so ein Fass aufzumachen, wegen all Deiner intimen Fragen zu meiner Kultur und Migrationsbiografie. Noch nie habe ich mich getraut Dich darauf hinzuweisen, wie unangebracht Deine Fragen und Aussagen sind. Über Deine Atombomben-/Terroristen-Witze lache ich immer brav mit. Auch die Frage, ob wir Perser*innen eigentlich noch mit Händen essen, beantworte ich Dir ganz in Ruhe. Warum das so ist, frage ich mich. Das liegt wohl daran, dass Du eine Macht hast, die Dich unsichtbar umgibt. Du bist „normal“. Deine Position ist „normal“. Diese Normierung des Weißseins bringt alles, was von dieser Norm abweicht – also nicht-weiß ist – in die Situation, sich erklären zu müssen. Und das nervt. Sehr. Vor allem weil Du meinst, ich, als weißgelesene nicht-ganz-weiße Person, sei ein Safe-Space für Deine unmöglichsten Fragen.

 

Deine Geheimagentin

Denn ich bin ja Deine Geheimagentin, ein Teil beider Welten. Doch einen richtigen Platz habe ich nirgendwo. Wie gesagt, ich könnte gut als Deutsche durchgehen bzw. „passen“, eigentlich bin ich ja auch mehr Deutsch als alles andere. Bis auf meinen Namen, meine Familie, meine Erziehung, mein Lieblingsessen und die ein oder zwei persischen Traditionen, die in meinem Leben tatsächlich eine Rolle spielen, ist das meiste an mir Deutsch: Mein Pass, mein Geburtsort, die meisten meiner Freund*innen, die Sprache, in der ich denke und auch jede*r Iraner*in würde mir bestätigen, dass ich deutsch sei.
Was also unterscheidet mich von den „echten“, den ganz Deutschen. Weiß-Sein, das heißt für mich, ignorant sein zu können. Die wenigsten weiß Deutschen beschäftigen sich in ihrem Alltag mit Rassismus und Diskriminierung – weil sie nicht müssen. Von den wenigsten weiß-deutsch Kindern wurde der Vater wegen des Vorwurfs des Diebstahls verhaftet, als er auf einem Flohmarkt die alten Handys seiner Kinder verkaufen wollte. Meine Erfahrungen und meine Perspektive passen nicht in das Raster einer „richtigen“ Deutschen. Ich sehe den Rassismus im Alltag und in Institutionen, den Du irgendwie nie wahrhaben willst.

 

Ich bin so weiß wie du…

Ich bin so weiß wie Du und profitiere auch von denselben rassistischen Machtstrukturen. Ich bin, wie Du, nicht von Colorism betroffen. Colorism ist, nach der Autorin Alice Walker, die „ungleiche Behandlung aufgrund von Hautfarbe zwischen gleich-rassifizierten Menschen“ (zitiert nach Alice Hasters „Mückenstiche mit System. Zum Umgang mit Alltagsrassismus“). Mein Körper und mein Leben sind nicht wegen meines Aussehens ständig Gefahren ausgesetzt. Ich bin mir bewusst, dass ich als Profiteurin eines rassistischen Systems, auch selbst häufig unbewusst Rassismen reproduziere. Ich bin weiß, so wie Du aber im Gegensatz zu Dir, sehe ich meine weißen Privilegien. Ich spüre sie und ich sehe welche Konsequenzen sie für die Menschen ohne diese Privilegien, z.B. meine Familie, haben. Ich erkenne meine Verantwortung an. Du hingegen kannst Dich alledem ungestört entziehen, als wäre das alles nicht dein Chai – Pardon, Bier. Ich muss Dich leider enttäuschen: Rassismus ist nicht das Problem der „Anderen“, der Betroffenen – es ist Deins.

Menschen, die genauso wie ich in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, werden einzig aufgrund Ihrer Haut- und Haarfarbe, nicht als Deutsche akzeptiert, selbst wenn sie sich selbst so sehen, selbst wenn sie es sind. Sie müssen Ausländer*in, Mensch mit sogenannten Migrationshintergrund, „Passdeutsche“ oder was auch immer Du sie nennen magst, bleiben, da sie sonst mit ihrem Anspruch aufs Deutsch sein, Deine Identität, die Identität der „richtigen“, der weißen, der ganz Deutschen erschüttern würden. Das wiederum würde ich wirklich gern miterleben. Ich kann Dir aber versprechen, es ist gar nicht so schlimm ohne eine genau definierbare kulturelle Identität.

„Wenn du deine Identität nur durch ein Feindbild aufrechterhalten kannst, dann ist deine Identität eine Krankheit.“ – Hrant Dink (1954 – 2007), Journalist und Publizist. (zitiert nach Max Czollek „Desintegriert Euch!“)

 

 

1 vgl. Fürsich, E. (2010): Media and the Representation of Others. In: International Social Science Journal, 61/199, S. 116.
2 Attia, I. (2009): Die „westliche Kultur“ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion des Orientalismus und antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: Transcript, S. 8.

 

Bild:SeRGioSVoX CC