„Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten!“

 

Warum Erfahrungsaustausch so wichtig ist und was wir von früher lernen können

In den letzten Monaten haben sich im deutschsprachigen Raum vor allem junge, migrantische Menschen verstärkt zusammengeschlossen, um zu versuchen sich gegen Faschismus, Rassismus, Antisemitismus und Polizeigewalt zu organisieren. Insbesondere nachdem Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu in Hanau am 19. Februar 2020 einem rassistischen Anschlag zum Opfer fielen, haben sich in vielen Städten Gruppen unter dem Label „Migrantifa“ gegründet. An vielen Orten ist bemerkbar, dass immer mehr migrantische Menschen erkennen, dass ihre Sicherheit vom deutschen Staat nicht garantiert wird und sie sich stattdessen selber organisieren und schützen müssen. Bei dieser Organisierung ist es enorm wichtig, sich mit vergangenen migrantischen Selbstorganisierungsversuchen auseinanderzusetzen und von ihnen zu lernen. So kann auf bereits Vergangenheit gemachte Erfahrungen aufgebaut und die Wiederholung von Fehlern vermieden werden.

In diesem Text geht es deshalb um die antifaschistische Gruppe Antifaşist Gençlik (AG, deutsch: Antifaschistische Jugend) und darum, was migrantische antifaschistische Gruppen heute von AG lernen können.

 

 

Migrantische Selbstorganisierung: Von der Wiedervereinigung bis heute

AG als Gruppe entstand Ende der 1980er Jahre in Berlin. Zeitgleich schlossen sich in den Berliner Bezirken Wedding, Neukölln und Kreuzberg migrantische Antifaschist*innen zusammen, um gegen Neonazis in Berlin vorzugehen. Sie wollten sich von den Exil-politischen Gruppen der migrantischen Linken abgrenzen und antifaschistische Politik in Deutschland machen. Anstatt sich weiterhin nur mit den politischen Kämpfen in ihren Herkunftsländern zu beschäftigen, wollten sie die gesellschaftlichen Verhältnisse vor Ort angehen und verändern.

Mit der Zeit stellten Mitglieder von AG vermehrt Kontakt zu Jugendlichen und sogenannten Jugendgangs in diesen Bezirken her, in welchen sich die besonders von Polizei und Staat unterdrückten Jugendlichen zusammengeschlossen hatten. Mit der Zeit arbeitete AG immer mehr mit diesen Jugendlichen zusammen. AG wurde ab 1992 von der Polizei mit massiver Repression überzogen und konnte daraufhin die eigene politische Arbeit nicht fortsetzen. Spätestens 1994 löste die Gruppe sich auf.

Bereits ganz am Anfang wurde diese neue migrantische Antifa-Gruppe sehr klischeehaft betrachtet: Während sie für die Alman-linke Szene Berlins starke Ausländer mit Street Credibility waren und deshalb sehr gut für militante Aktionen geeignet, waren sie für diese gleichzeitig ideologisch naiv oder ungebildet. Für den deutschen Staat waren sie vor allem Kriminelle, die mit den Jugendgangs zusammenarbeiteten. Auch heute lässt sich beobachten, dass viele Projektionen auf neue migrantische Selbstorganisierungen, wie die Migrantifa, abgeladen werden.

Für die Rechten, wie z.B. die AfD, ist die Lage eh eindeutig: ein neuer Mob von Kanacken, der auf Deutschlands Straßen wütet – so wurde auf der eigenen Website nach ein paar kaputten Fensterscheiben in Stuttgart direkt „Migrantifa attackiert die Polizei“ getitelt. Aber nicht nur die Rechten bleiben bei ihrer eigenen Vorstellung hängen: migrantische Linke fordern zum Teil, dass sich mehr auf Exilpolitik fokussiert wird; liberale Antirassist*innen stören mit individualistischen Ansätzen kollektive Prozesse; und vielen Alman-Linken läuft das Wasser im Mund zusammen, bei der Vorstellung dass ein paar Kanacken sich jetzt politisieren.

 

Antifa Gençlik und seine Lehren

 

 

Eine gemeinsame linke Perspektive schaffen

Gerade wegen dieser Klischees, mit denen AG sich auseinandersetzen musste, war das Verhältnis zu Alman-Linken schwierig. Ehemalige Mitglieder von AG beschrieben in Artikeln und Interviews, dass sie sich im gegenseitigen Kontakt nicht ernst genommen gefühlt haben. So lag der überspitzte Kommentar eines Alman Autonomen mit „wir brauchen euren Mut, wie ihr unsere Klugheit braucht“ nicht fern und deckte die tiefgreifenden gegenseitigen Stereotype in der Zusammenarbeit auf. Doch was lässt sich aus den Erfahrungen von AG mit dem Verhältnis zur deutschen Linken für migrantische Organisierungsprozesse heute lernen?

Es muss sich dringend und immer wieder die Frage gestellt werden: Welche sind die echten Genoss*innen? Welche Linken Gruppen sind ernsthaft an dem Erfolg migrantischer Selbstorganisierung interessiert? Das sind in meinen Augen nicht die, die migrantische Linke ohne vorherigen Kontakt vehement kritisieren oder verlangen, dass diese Migras jetzt ihre Vorstellungen umsetzen. Und auch nicht die, die Migrantifa über alles loben und aufgrund der migrantischen Positionierung nicht trauen, sie zu kritisieren. Wenn diese Gruppen einmal erfolgreich zusammenarbeiten sollen, müssen Alman-Linke auch lernen, ihre Kritik gegenüber migrantischen Linken zu äußern – solidarisch und konstruktiv. Das wird nur gelingen, wenn migrantische Organisierungsprozesse wirklich ernst genommen werden, als das was sie sind: ein Versuch, sich in der gegenwärtigen deutschen Linken einen Platz zu erkämpfen. Das Bedürfnis danach ist bei vielen migrantischen Linken aus den immer wieder gemachten Ausschluss-Erfahrungen in linken Gruppen heraus entstanden. Nur wenn Alman-Linke Gruppen diese Erfahrungen akzeptieren und bereit sind, migrantischen Selbstorganisationen auf Augenhöhe zu begegnen, wird eine gemeinsame linke Perspektive möglich sein. Und auf diese kommt es an, denn im Endeffekt wird eine separatistische migrantische Organisierung uns nicht retten.

 

„Wir hätten auch die sozialen Forderungen diskutieren und auf die Straße bringen müssen.“

 

Ein Punkt, den ehemalige Mitglieder von AG und andere, während dieser Zeit Aktive öfter betonen: anstatt nur gegen Nazis auf der Straße aktiv zu sein, hätte auch die soziale Frage aktiver gestellt werden müssen. Während vor allem der antifaschistische Widerstand gegen Neonazis angestrebt wurde, gab es keine Versuche, mit den Jugendlichen auch über ihre materiellen Verhältnisse, also Arbeitsbedingungen, Löhne, Mieten, Versorgung im Stadtteil etc. zu sprechen und deren Verbesserung anzugehen.

Auch heute müssen Linke sich klar machen: der Faschismus wird nicht geschlagen, wenn nur über Nazis geredet wird. Staatliche Organe wie Polizei und Geheimdienste sind durchsetzt mit Rechten. Zugleich werden Neu-Rechte Parteien von Immobilieninvestor*innen und anderen Kapitalist*innen durch Spenden gefördert und damit ihr Aufstieg mitermöglicht. Parallel dazu muss die Verbindung zu immer prekärer werdenden Arbeits- und Wohnverhältnissen gezogen werden, damit eine gemeinsame Organisierung nicht nur beim „Gegen Nazis“ stehenbleibt, sondern darüber hinausgeht.

 

 

Anmerkung:

Dieser Text ist inspiriert von Diskussionen über das Buch „Antifa Gençlik – Eine Dokumentation [1988-1994].“ In diesem Buch wurden viele Dokumente der AG veröffentlicht, es erschien im Unrast Verlag im April 2020 in der 2. Auflage. (Link: www.unrast-verlag.de/neuerscheinungen/antifa-genclik-detail) Die Zitate stammen aus dem Buch.

 

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