Der Krieg um die Region Karabach tobte rund sechs Wochen und die Verluste auf beiden Seiten gehen in die Tausende: Insgesamt sind in einem einzigen Monat über 5000 Menschen in diesem Krieg gestorben! Als gebürtiger Armenier, der schon lange in der Diaspora lebt und hier politisch aktiv ist, war ein Krieg zwischen den beiden Ländern quasi jederzeit zu erwarten. Karabach ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden Ländern umstritten und war der Grund eines heftigen Krieges in den frühen 1990er-Jahren, als die Sowjetunion zerfiel und beide Länder unabhängig wurden. Dieser forderte über 50.000 Menschenleben und verursachte 1,1 Millionen Geflüchtete ehe mit einem Waffenstillstandsabkommen vom 12. Mai 1994 der Krieg beendet wurde.

Inmitten dieser Zeit wurde ich in der armenischen Hauptstadt Yerevan geboren. Die wirtschaftliche Situation infolge des Kollapses der UdSSR war damals in allen postsowjetischen Ländern katastrophal, aber in Armenien kam auch noch der Krieg dazu. Zu dem Zeitpunkt war Hunger keine Seltenheit und Strom und Wasser waren rationiert und nicht jederzeit verfügbar, teilweise nur vier Stunden am Tag. Auch das Anstehen für Lebensmittel war damals nicht unüblich, sondern Alltag. Diese Zeit hat viele Menschen nicht nur traumatisiert, sondern auch zur Migration gezwungen: Über 300.000 Menschen verließen bis zur Jahrtausendwende das Land, darunter dann auch meine Familie gen Deutschland.

Da der Krieg heftig war und mit ähnlicher, wenn nicht aufgrund modernerer Waffen sogar mit größerer Brutalität geführt wird, ist die Sorge groß, dass die kommenden Wintermonate ähnlich verheerend wie zu Beginn der 90er-Jahre werden könnten. Diesmal kommt auch noch die Covid 19-Pandemie hinzu, die die Länder des Kaukasus schon im Frühjahr hart traf und auch jetzt in allen drei Ländern — Armenien, Aserbaidschan und Georgien — für steigende Neuinfektionen sorgt.

Die Armenier*innen nennen die Region um Karabach auch Arzach, so wie es die Bewohner*innen der Region selbst tun. Vor dem Krieg lebten dort 150.000 Menschen, rund 100.000 von ihnen sind nun nach Armenien geflohen. Mehr als 90 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Die humanitäre Lage im Land verschärft sich: „Jerewan ist bereits jetzt komplett überlastet. Es ist unmöglich geworden, eine Wohnung zu mieten. Damit sich geflüchtete Menschen nicht alle in der Hauptstadt drängen, versucht das Ministerium für Arbeit und Soziales für die Neuankömmlinge in den Regionen eine Unterkunft zu finden. Dort gibt es aber allenfalls in öffentlichen Einrichtungen noch Kapazitäten. Einige Familien übernachten derzeit in Schulen. In der Stadt Tscharenzawan, etwa 40 Kilometer von Jerewan entfernt, sind etwa 400 Familien untergekommen und das dichtgedrängt auf engstem Raum. In einer Vierzimmerwohnung leben 20 Menschen zusammen”, so der taz-Journalist Tigran Petrosyan.

Den Krieg aus der Diaspora aus zu verfolgen, stellte eine intensive Zeit dar, da nahezu jede armenische Familie jemanden an der Front hat. Immer wieder hören wir, dass der Sohn eines Bekannten gefallen ist und eine Beerdigung stattfindet. Dementsprechend aufgewühlt sind auch die Menschen aus Armenien in der Diaspora, wo rund 7 Millionen armenischstämmige Menschen leben. Von Sidney bis nach Los Angeles fanden Proteste gegen den Krieg statt, wo zuallererst Frieden für die Region eingefordert wurde. Auch in Deutschland gab es regelmäßige Demonstrationen, in Hamburg wurde sogar eines Morgens die Autobahn A1 blockiert. Auf diesen Demonstrationen wurden tausende Euros an Spenden gesammelt, um den Menschen vor Ort zu helfen. Auch für mich sind die Spenden an die Familie im Land oder allgemein an Wohltätigkeitsorganisationen für humanitäre Zwecke eine Selbstverständlichkeit.

Da ich schon seit Jahren politisch in Deutschland aktiv bin, ist es für mich auch eine Pflicht, zu den Demonstrationen hinzugehen. Ich halte sie für wichtig, um die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken und den Menschen im Land zu zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben und so gut es geht unterstützen wollen. Zweifellos war dieser Krieg fatal für die Region und eine Lösung war diesmal auch deswegen so schwierig, weil die Türkei unter dem Diktator Recep Tayyip Erdogan quasi Kriegspartei war und den Krieg am meisten anheizte. Sie ist zusammen mit dem aserbaidschanischen Diktator Ilham Aliyev dafür verantwortlich, dass sogar islamistische Terroristen, die zuvor gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava gekämpft haben, nun im Krieg aktiv waren und Kriegsverbrechen begingen.

Dieser Krieg war aber nicht nur für die Armenier*innen, sondern auch für die Aserbaidschaner*innen von Nachteil, da besonders sie viele Verluste zu ertragen haben. Aserbaidschan ist eine repressive Diktatur, die schon fast an eine Dynastie erinnert, wo das Ehepaar Aliyev Präsident respektive Vizepräsidentin ist. Für die Ehefrau des Diktators Ilham Aliyev, Mehriban Aliyeva wurde 2017 extra das Amt einer Vizepräsident*in geschaffen. Es passt zu diesem System, dass das eigene Verteidigungsministerium noch nicht einmal Angaben über die gefallen Soldaten macht — bis heute nicht, wo der Krieg vorbei ist!

Auch unter der aserbaidschanischen Gesellschaft gibt es zivile Opfer, sodass ich es auf armenischen Kundgebungen wichtig finde, diese zu erwähnen. Ebenso wichtig ist mir die Teilnahme von Jesid*innen und Aramäer*innen, die ebenfalls in der Region leben, aber kaum Erwähnung finden. Dass sie ebenfalls an unseren Kundgebungen teilnehmen, bedeutet uns viel. Sie kämpfen ebenso für ihr eigenes Überleben, zumal der IS 2014 im Shengal einen Völkermord an den Jesid*innen verübte. Im Krieg selbst gab es sowohl jesidische als auch aramäische Freiwilligenverbände.

Mit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Armenien, Aserbaidschan und Russland vom 9. November wurde der Krieg beendet, nachdem Aserbaidschan kurz zuvor die strategisch wichtige Stadt Shushi erobert hatte. Es ist eine Kapitulation Armeniens und stürzte das Land ins politische Chaos. Armenien verliert nicht nur die sieben umliegenden Provinzen, sondern auch rund die Hälfte von Arzach mit so wichtigen Städten wie Shushi und Hadrut. Tausende befinden sich auf der Flucht, weil eine ethnische Säuberung stattfand. Teilweise hatten die Menschen nur einen Tag Zeit, um ihre Häuser zu verlassen! In den besetzten Gebieten werden armenische Geschäfte und Wohnungen geplündert und zerstört — es sind Szenen, wie wir sie auch aus Rojava kennen, als islamistische Banden mithilfe der Türkei in Afrin einmarschierten.

Angesichts der dokumentierten Kriegsverbrechen gibt es nicht wenige Menschen aus beiden Ländern, die der Ansicht sind, mensch könnte niemals zusammenleben. Doch das ist falsch. Beide Völker werden auch morgen noch Nachbar*innen sein und nur eine internationalistische Perspektive mit dem Sturz der kapitalistischen Ordnung in der Region kann den lang ersehnten Frieden bringen. Im Gegensatz zu den Erfahrungen in der Sowjetunion wird es aber überlebenswichtig sein, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu akzeptieren und auch umzusetzen.

Wir in der Diaspora sollten auch weiterhin für diese Perspektive eintreten und natürlich auch die Menschen im Land unterstützen und Hilfe leisten. Der Tag wird kommen, wo der Faschismus verschwinden werden wird. Dann werden wir auch alle Kulturgüter und Häuser, die von diesen Banden in diesen Tagen zerstört werden, wieder aufbauen.

 

Bild: Ebs Els CC