Empowerment
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Die antisemitischen und rassistischen Terroranschläge in Hanau, Halle oder auch des NSU-Komplexes sind nur der Gipfel eines Eisbergs aus alltäglichem Rassismus und Antisemitismus, die die deutsche Gesellschaft von Grund auf durchziehen. Im Nachklang der Terroranschläge sind deutschlandweit vielfältige und kraftvolle Stimmen des Widerstands laut geworden – von Überlebenden, Zeug*innen, Hinterbliebenen und Angehörigen der betroffenen Communities.

Neben all der Kraft, der Wut und den klaren Perspektiven, die zum Beispiel in Forderungen an die weiße deutsche Mehrheitsgesellschaft formuliert wurden, standen auch Fragen danach im Raum, wie Überlebensstrategien im Umgang mit den körperlichen, emotionalen, psychischen und sozialen Folgen von Rassismus und Antisemitismus aussehen können. Auch ich habe mir alleine und in Gesprächen mit Freund*innen immer wieder die Frage gestellt, wie wir es schaffen können, trotz alltäglicher Gewalterfahrungen auch Momente von Kraft und Ruhe zu haben. In diesem Text möchte ich über Empowerment als politische Praxis sprechen, die für mich eine Überlebensstrategie im Umgang mit Diskriminierung sein kann.

 

Rassismus und Antisemitismus prägen unsere Lebensrealitäten von Grund auf

Wenn ich von Rassismus und Antisemitismus spreche, meine ich damit allgegenwärtige Denk- und Handlungsmuster, die Menschen in zugehörig und nicht-zugehörig einteilen. Sie zeigen sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen, wie zum Beispiel in individuellen Worten und Handlungen, Medien, Gesetzen oder Institutionen wie der Schule oder der Polizei und stellen eine alltägliche Bedrohung für das Leben Schwarzer Menschen und People of Colour dar.
Rassismus und Antisemitismus schreiben sich auch in die Körper, Gefühle und Handlungen von betroffenen Menschen ein. Zum Beispiel prägen sie unsere Biografien durch die Verinnerlichung diskriminierender Normen, was zu Gefühlen von Ohnmacht oder sogar Selbstanschuldigungen führen kann (vgl. Yiğit 2013, 42). Strukturelle Kritik an Rassismus und Antisemitismus, ebenso wie Solidarisierungsprozesse, werden dadurch erschwert (vgl. Nassir-Shahnian 2013, 17f.).
Fragen danach, wie Überlebensstrategien in Anbetracht von Rassismus und Antisemitismus aussehen können sind nicht neu, ebenso wenig wie die politische Praxis des Empowerments, die seit vielen Jahren eine der vielen Antworten auf Unterdrückung darstellt.

 

Empowerment ist Selbstermächtigung

Wenn ich von Empowerment spreche, dann verstehe ich es als ein politisches und theoretisches Konzept, das im Zuge der Schwarzen Bürgerrechts- und der feministischen Frauenbewegung der 1960er Jahre in den USA bekannt geworden ist und bis in den antikolonialen Widerstand kolonialisierter Bevölkerungen zurückverfolgt werden kann. Durch Schwarze deutsche und feministische politische Praxen wurde Empowerment als Weg zu politischer Selbstbestimmung in den 1980er Jahren auch in Deutschland bekannter (vgl. Can 2013, 9; Gün Tank 2013, 12f).
Anlehnend an Natascha Nassir-Shahnian begreife ich Empowerment als einen Ansatz, der sich an Menschen richtet, „die durch […] Herrschaftsverhältnisse (Rassismus, Klassismus, Sexismus, Heteronormativität u.a.) unterdrückt werden.“ (Nassir-Shahnian 2013, 16) Im Fokus steht also die gesellschaftlich ungleiche Verteilung von Macht, die unter anderem durch die (Selbst-)Ermächtigung diskriminierter Personen ausgeglichen werden soll.

In meinen Empowermenterfahrungen, die ich im Laufe meiner Biografie zum Beispiel in Empowermentworkshops oder politischen Gruppen gemacht habe, konnte ich meine Diskriminierungserfahrungen mit anderen teilen, über ihre physischen und psychischen Auswirkungen sprechen und Gedanken, Ideen und Emotionen in einem möglichst geschützten Raum austauschen. Gemeinsam mit anderen Betroffenen konnte ich so neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten entwickeln und Erfahrungen des nicht-allein-Seins und der Anerkennung meines eigenen Wissens und meiner eigenen Lebensrealität machen. Nuran Yiğit und Halil Can verstehen genau diese Prozesse als grundlegende Elemente von Empowerment (vgl. Yiğit/Can 2009, 168ff).

 

Veränderung durch gemeinsames Denken und Handeln

Beim gemeinsamen Austausch und Lernen in Empowermenträumen wurde es mir ermöglicht eigene Diskriminierungserfahrungen mit breiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verknüpfen und strukturelle Perspektiven auf Rassismus und Antisemitismus zu entwerfen. Diese strukturellen Perspektiven halfen mir dabei, die oben angesprochene Verinnerlichung von Diskriminierung und die erlernten Ohnmachtsgefühle mit der Zeit zumindest in Teilen zu überwinden und mich handlungsfähiger zu fühlen.
Das Erinnern, Erzählen und Dokumentieren ausgeblendeter, verdrängter oder verschwiegener Erfahrungs- und Widerstandsgeschichten im Zuge von Empowermentprozessen macht unterdrückte Erzählungen über die eigene Biografie und gesellschaftliche Strukturen hörbarer (vgl. Meza Torres/Can 2013, 30). Eigene Bedürfnisse, Grenzen und Gefühle wie zum Beispiel Wut können dabei bewusst als Antriebskräfte zur Erarbeitung von eigenen und gemeinsamen Handlungsstrategien, wie Strategien der Selbstfürsorge und des Widerstandes, genutzt werden (vgl. Nassir-Shahnian 2013, 20ff.).
Empowerment hat also eine politisierende Wirkung, durch die gesellschaftliche Normen und Herrschaftsverhältnisse hinterfragt und verändert werden können. Die langfristigen gesellschaftlichen Ziele von Empowerment stellen für mich dabei mehr Selbstbestimmung und mehr soziale Gerechtigkeit dar, wie auch Nissar Gardi, Nuran Yiğit und Halil Can beschreiben (vgl. Gardi 2018, 78; Yiğit/Can 2009, 170ff.). Dafür sind nachhaltige individuelle und kollektive Handlungsstrategien wichtig, die durch die Selbstermächtigung und Vernetzung von Schwarzen Menschen und People of Colour entwickelt werden (vgl. Can 2013, 6).
Momente dieser Selbstermächtigung und Vernetzung konnte ich beispielsweise in selbstorganisierten Bündnissen von Menschen mit Rassismus und/oder Antisemitismuserfahrungen erleben, in denen ich mich nicht nur über Handlungsstrategien austauschen konnte, sondern auch grundlegend mit anderen darüber sprach, wie wir zusammen in einer Gesellschaft leben wollen und was wir langfristig brauchen, um dieses Ziel umzusetzen. Bei Empowerment geht es deswegen nicht nur um konkrete Handlungsstrategien, sondern auch um das Erlernen einer Empowerment-Perspektive, die individuelle Handlungsspielräume und -möglichkeiten nachhaltig und langfristig erweitert – eben weil Empowerment ein niemals endender und allumfassender Prozess ist (vgl. Nassir-Shahnian 2013, 18ff.).

 

Eine von vielen Antworten

Empowerment-Räume sind Orte der Begegnung, des Sichtbarwerdens und der gegenseitigen Stärkung im Umgang mit Rassismus. In ihnen konnte ich die Erfahrung gegenseitiger Anerkennung individueller Umgangs- und Überlebensstrategien machen. Sie sind Orte, die vielleicht eine von vielen Antworten auf die Frage danach darstellen, wie Überlebensstrategien im Umgang Antisemitismus und Rassismus aussehen können.

 

 

Quellenangaben:

Can, Halil (2013): Empowerment aus der People-of-Color Perspektive. Reflexionen und Empfehlungen zur Durchführung von Empowerment-Workshops gegen Rassismus. Herausgegeben von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung (LADS). Online unter: www.eccar.info/sites/default/files/document/empowerment_webbroschuere_barrierefrei.pdf (Zugriff 22.09.2020).

Gardi, Nissar (2018): Peers of Color – Empowerment als reflexive, kollektiv bewegende Praxis. In: Hunner-Kreisel, Christine/Wetzel, Jana (Hrsg.): Rassismus in der Sozialen Arbeit und Rassismuskritik als Querschnittsaufgabe. Perspektiven für Wissenschaft und Praxis. Neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik. Sonderheft 15, Lahnstein: Verlag neue praxis GmbH, S. 78-90.

Gün Tank, Gabriele (2013): Ein etwas anderes Vorwort. In: Heinrich-Böll Stiftung (Hrsg.):
Empowerment. MID Dossier. S. 12-14. Online unter: heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_empowerment.pdf (Zugriff 22.09.2020).

Meza-Torres, Andrea/Can, Halil (2013): Empowerment und Powersharing als Rassismuskritik und Dekolonialitätsstrategie aus der People-of-Color Perspektive. In: Heinrich- Böll Stiftung (Hrsg.): Empowerment. MID Dossier. S. 26-41. Online unter: heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_empowerment.pdf (Zugriff 22.09.2020).

Nassir-Shahnian, Natascha (2013): Dekolonisierung und Empowerment. In: Heinrich-Böll Stiftung (Hrsg.): Empowerment. MID Dossier. S. 16-25. Online unter: heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_empowerment.pdf (Zugriff 22.09.2020).

Yiğit, Nuran/Can, Halil (2009): Politische Bildungs- und Empowerment-Arbeit gegen Rassismus in People of Color-Räumen – das Beispiel der Projektinitiative HAKRA. In: Elverich, Gabi [u.a.] (Hrsg.): Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. 2. Auflage. Münster: UNRAST-Verlag, S. 167-194.

Yiğit, Nuran (2013): Empowerment in der Antidiskriminierungsberatung. In: Heinrich-Böll Stiftung (Hrsg.): Empowerment. MID Dossier. S. 42-52. Online unter: heimatkunde.boell.de/sites/default/files/dossier_empowerment.pdf (Zugriff 22.09.2020).

 

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