Was in Hanau geschehen ist und was das in uns auslöst, lässt sich durch Worte nicht so einfach beschreiben.

Klar ist, dass dieser Tag jedoch nicht den ersten, rechtsterroristischen Anschlag begründet hat. Es existiert ein viel tiefer verwobenes Netz rund um den rechten Terror herum. Und die Folgen sind verheerend: Langwieriger, tiefer Schmerz und Trauer begleiten die Betroffenen jeden Tag. Sicherheitsbehörden bieten schon lange keine Sicherheit mehr. Und die Politik hat den Weg für die Träger des rechten Terrors frei gemacht.

Genau deswegen gilt vor allem heute: Wir lassen uns nicht durch Faschismus und Rassismus spalten, sondern wir stehen untereinander, füreinander ein.

Newroz Duman schreibt am 27.02.2020 in „Der Freitag“:

Die Tage hier in Hanau sind von Schmerz und Verunsicherung geprägt. Von Beerdigungen. Von Trauerfeiern. Eltern und Geschwister, Nachbarn, Freund*innen und Bekannte reden über ihren Verlust, den Verlust eines geliebten Menschen, eines Freundes, einer Mutter. Sie suchen einen Weg, diese Verluste zu betrauern. Doch das ist sehr schwer in den Tagen nach einer solchen Tat. Denn die Wut ist ebenso stark wie die Trauer. Die Wut darüber, dass die nächsten rechten Morde geschehen sind, dass wieder einmal passiert ist, was immer wieder passiert – trotz aller Warnungen.

„Mein Sohn soll nicht umsonst gestorben sein“, sagt die Mutter des getöteten Ferhat Ünvar auf seiner Beerdigung. Ihr Sohn sei Opfer eines rassistischen Anschlags geworden, wir seien alle dafür verantwortlich, dass keinem weiteren Menschen zustoße, was ihrem Sohn zugestoßen ist. Es muss die letzte Mutter sein, die diesen Satz sagt. So viele haben ihn schon gesagt in den letzten Jahrzehnten, doch es passierte nichts. Geschützt wurden die Täter, nicht die Opfer.

Wir dürfen nicht zulassen, dass sich diese Geschichte wiederholt. Das klingt so leer. Und doch geht es jetzt genau darum. Wir wollen nicht nur wissen, was am 19. Februar in Hanau passiert ist, sondern endlich auch, was in den letzten 20 Jahren passiert ist. Die Geschichte der Opfer des NSU, die Geschichte ihrer Angehörigen, muss wieder auf den Tisch und lückenlos aufgearbeitet werden. Wir müssen erfahren, wer die Akten vernichtet hat, wer vertuscht hat. Wir müssen auch wissen, was mit Oury Jalloh in Dessau, mit Jaja Diabi in Hamburg passiert ist, mit Burak Bektaş in Berlin.

Denn schon heute, obwohl die Tat noch lange nicht aufgeklärt ist und wir wieder nicht wissen, ob sie es jemals sein wird, ist eines klar: Der Tod dieser Menschen steht in direktem Zusammenhang mit der staatlichen und gesellschaftlichen Verharmlosung rechter Gewalt, mit der Ignoranz gegenüber den Stimmen der Betroffenen von Rassismus und einer politischen Kultur, die eine neue faschistische Massenbewegung zum Gesprächspartner macht. Wer den täglichen Rassismus kennt und den Hass spürt, der uns entgegenschlägt, der weiß schon lange, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis der erste faschistische Wutbürger zur Waffe greift. Wir wussten das. Und nicht nur wir. Die Mordphantasien von Tausenden neuen Nazis sind in öffentlichen Briefen und Internetkommentaren dokumentiert, sie sind nicht in geheimen oder verschlüsselten Chats zu finden. Es passiert: Nichts. Seit Jahren, seit Jahrzehnten. Wie soll ein Mensch trauern, der das weiß? Und wie sollen Familien Abschied nehmen, die nicht wissen, wem sie vertrauen können.

Die Menschen hier in Hanau, Hessen, kennen alle die Geschichte des NSU. Freunde und Familien misstrauen der Polizei und dem Staat zutiefst. Wer sagt die Wahrheit über das, was passiert ist? Das ist schwer, sehr schwer. Und wir kennen nicht nur den NSU, wir kennen auch einen Hans-Georg Maaßen, der bis vor einem Jahr den Verfassungsschutz leitete. Wessen Schutz kann man von solch einer Behörde und von solchen Apparaten erwarten? Wohl kaum den der Opfer. Im Gegenteil: Die explizit gewollte Nicht-Aufklärung von Gewalttaten ist eine offene Einladung zu weiterer rechter Gewalt. Schon im Jahr 2006 demonstrierte die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat in Kassel unter dem Motto „Kein zehntes Opfer“ für die Aufklärung der Nazimorde. Sie fand nicht statt, nicht in der Polizei, nicht im Verfassungsschutz. Wir brauchen ein Programm der Entnazifizierung: in den Behörden, in Schulen, Ämtern, Parteien, Parlamenten.

Aber es gibt nicht nur Trauer und Wut. Da ist auch etwas im Umgang der letzten Tage, das unglaublich wichtig ist, gerade in Hanau, Stadt der Migration, unserer Stadt, in der wir lange ohne Angst lebten. Der Versuch des Täters, Menschen fremd, zu Nicht-Deutschen zu machen, Menschen mit Migrationsbiografie in ihren Rechten zu schwächen, wird zurückgewiesen – besonders von den Familien selbst.

In ihren Ansprachen und Trauerreden betonen sie es unermüdlich: Dass ihre Kinder, Brüder und Schwestern Hanauer waren, dass es ihre Stadt war und ihr Leben, das der Täter attackierte. Sie bestehen darauf, dass die Tat die Opfer nicht nachträglich zu Fremden macht, die sie nie gewesen sind. Ferhat Ünvars Familie sagte am Samstag auf unserer Kundgebung: „Ferhats Opa kam als Gastarbeiter nach Hanau und baute die Straßen, auf denen der Täter von einem Tatort zum anderen fuhr.“ Und Candan Özer Yılmaz, die Witwe von Atilla Özer, der 2004 beim Nagelbombenanschlag des NSU in seinem Friseurladen in der Kölner Keupstraße schwer verletzt wurde und 2017 verstarb, war noch deutlicher: „Lernt ihr erstmal unsere Namen und Geschichten, wenn ihr Deutsche sein wollt.“

Wir müssen diese Solidarität ohne Ideologie bauen. Ausgehend von der gemeinsamen Erfahrung der Ausgrenzung, des Schmerzes, der Klage um die Toten und der Forderung nach einer Stadtgesellschaft, die niemanden fremd macht. Wir lassen uns nicht trennen durch Profilierungsbestrebungen von Parteipolitikern, von Schirmherrschaften oder religiösen Verbänden. Sondern wir bauen die Beziehungen mit den Menschen vor Ort. Und unter uns.

 

 

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