Maura: Wer sind die Leute auf den Straßen und wie kam es zu den Protesten?

Andrés: Der Auslöser der Proteste war der „paquetazo“, ein Kürzungspaket was die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bevölkerung angreift. Unter anderem sollen Beschäftigten des öffentlichen Diensts die Urlaubstage gekürzt werden, befristet Beschäftigte soll der Lohn sogar um 20% gekürzt werden. Die Maßnahme, die am meisten Wut auf sich zog war jedoch die Streichung der Subventionen für Benzin und Diesel. Ecuador ist ein Land das Erdöl exportiert, aber das meiste davon gehört ausländischen Unternehmen. Damit die Bevölkerung Bus fahren und ihre Waren auf den Markt bringen kann, hatte der Staat die Treibstoffe seit über 40 Jahren subventioniert. Die vollständige Streichung bedeutet einen starken Anstieg der Lebensmittel- und Transportkosten, weswegen viele es als einen direkten Angriff auf ihre Rechte wahrnehmen. Aber diese Angriffe geschehen auch nicht zufällig, sondern auf Anordnung des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Ecuador einen Kredit von 4,2 Milliarden US-Dollar gab und im Gegenzug starke Kürzungsmaßnahmen fordert. Der Präsident Lenín Moreno und seine Regierung setzen diese bereitwillig durch.

Deswegen begannen letzten Donnerstag, am Tag der Verkündung des Gesetzespakets, Proteste in vielen Teilen des Landes. Ein großer Teil der Demonstierenden gehört den indigenen Völkern und Nationen Ecuadors an, deren Dachverband CONAIE zu Protesten und Straßenblockaden aufrief. Das ist eine sehr wichtige Entwicklung: die indigene Bevölkerung wird seit Jahrhunderten unterdrückt und ausgebeutet und hat eine lange Tradition der Widerstandskämpfe. Schon in den 90er Jahren waren sie eine treibende Kraft in den Kämpfen gegen den IWF, der schon damals Strukturanpasungsprogramme durchsetzte. Jedoch demonstrieren auch Studierende – vor allem der öffentlichen Universidad Central – Arbeiter*innen und andere Teile der Stadtbevölkerung. Zehntausende Menschen aus den indigenen Gemeinschaften sind in die Hauptstadt Quito angereist und werden dortin Universitäten, Turnhallen etc. aufgenommen. All diese sozialen Sektoren demonstrieren seit Tagen gemeinsam, trotz massiver Repression und mehrerer Toter.

 

M: Vor einigen Tagen hast du mit anderen gemeinsam eine Kundgebung vor der ecuadorianischen Botschaft in Berlin organisiert und auch am Samstag eine Demo in Berlin, die sich neben anderen antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfen wie in Kurdistan auch mit den Protesten in Ecuador solidarisiert. Warum denkst du ist es so wichtig, in diesem Moment auch von Deutschland aus zu mobilisieren und die Proteste zu unterstützen? Was können wir von hier aus bewirken?

A: Wir haben uns in erster Linie zusammengeschlossen, weil wir nicht tatenlos zusehen sollten, während die Regierung die Lebensbedingungen unserer Familien, Freund*innen, und Genoss*innen angreift, um die Interessen von ausländischen Investor*innen zu befriedigen. Dies tut die Regierung mit gnadenloser Gewalt, sie greift sogar geschlossene Unterkünfte mit Tränengas an. Gleichzeitig berichten die bürgerlichen Medien fast gar nicht über die Situation oder stellen die Demonstrierende als „Putschisten“ oder „Vandalen“ dar und verbreiten rassistische Ressentiments gegen Indigene. In unserer Erklärung und der Kundgebung vor der Botschaft haben wir all dies angeprangert.

Proteste vor der Botschaft

Es ist wichtig, sich mit den Protesten zu solidarisieren, nicht nur um gegen staatliche Repression vorzugehen, die es auch hierzulande gibt, sondern auch, weil wir uns in einer politischen Situation befinden, in denen die Lebensbedingung der arbeitenden Bevölkerung weltweit angegriffen werden. Das trifft mit mehr Härte Länder wie Ecuador, die eine koloniale Vergangenheit haben und heutzutage von ausländischem Kapital, vor allem aus den USA, China und Kanada, ausgebeutet werden. Doch auch hier in Deutschland steigen Alters- und Kinderarmut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die Massen in Ecuador zeigen uns, dass wir für unsere Rechte kämpfen können und müssen. Währenddessen solidarisiert sich die deutsche Regierung mit dem ecuadorianischen Präsidenten und rechtfertigt so die Repression und Morde an Demonstrierenden. Das lassen wir uns nicht gefallen.

Wie zum Beispiel am Samstag bei der Antikoloniale Demo in Berlin. Dort haben wir gemeinsam mit Aktivist*innen aus anderen communities und politischen Gruppen gegen Kolonialismus und Imperialismus demonstrieren. Mit dabei waren auch viele kurdische Genoss*innen, die gegen den Angriffskrieg der Türkei auf Rojava kämpfen. Mir ist es dabei wichtig, auf die Rolle des deutschen Staates hinzuweisen: internationale Solidarität wird kriminalisiert, während deutsche Konzerne mit Waffenexporten Kohle machen.

Antikoloniale Demo

 

M: Was hat aus deiner Perspektive Deutschland mit der politischen Situation in Ecuador zu tun? Siehst du eine Mit-Verantwortung von der deutschen Regierung für die Lage des südamerikanischen Landes?

A: Die Solidarisierung der deutschen Regierung mit dem Regime ist kein Zufall: Unter Moreno fand eine erneute Annäherung Ecuadors an die USA statt, deren Verbündeter auch Deutschland ist. Außerdem existiert ein Handelsabkommen zwischen der EU und Kolumbien und Peru, dem Ecuador im Januar 2017 zustieß als noch Morenos linker Vorgänger Rafael Correa im Amt war. Die deutsche Regierung hat also sowohl wirtschaftliche als auch geopolitische Gründe, die Kürzungsmaßnahmen zu unterstützen: mit einer verbündeten Regierung, die Sozialleistungen kürzt und Arbeitsstandards senkt wird das Land attraktiver für Investitionen. Außerdem muss gesagt werden, dass Deutschland auch im puncto IWF direkt profitiert: und zwar als viertgrößter Anteilseigner nach den USA, Japan und China.

Die Rolle Deutschlands in Ecuador ist also nicht so offensichtlich und aggressiv wie die der USA, die in Lateinamerika unzählige Putsche unterstützte und die Region als seinen „Hinterhof“ halten will. Jedoch werden seitens der Bundesregierung klare Interessen verfolgt, die im Widerspruch zum Wohl der Indigenen und Arbeiter*innen stehen.

M: Wie nimmst du die Berichterstattung in Deutschland über die Situation in Ecuador wahr? Was würdest du vielleicht gerne ergänzen oder anders darstellen?

A: In der Berichterstattung hierzulande sehe ich leider viele falsche und fehlende Informationen. Die bürgerlichen Medien stellen in den meisten Fällen die Hintergründe für die Proteste sehr verkürzt dar und nennen die erhöhten Benzinpreise als wichtigsten Faktor für die Proteste. Berücksichtigt wird dabei nicht, dass zudem noch viele andere Kürzungsmaßnahmen durchgeführt werden und in Planung sind. Genauso wenig werden die Aspekte der Selbstorganisierung genannt, also der Straßenversammlungen, die auf den Protesten stattfinen. In den liberalen und konservativen Medien wird von der Härte der Repression und den Morden an Demonstrierenden nicht berichtet, was mich sehr wütend macht. Die liberal-konservative FAZ, um nur ein Beispiel zu nennen, redet von einer Kraftstofferhöhung von 25 Prozent, obwohl tatsächlich der Dieselpreis um über 120% stieg. Die Absicht ist, die Proteste zu delegitimieren. Alternative Medien sind hierzulande und auch in Ecuador selbst gerade die besten Informationsquellen. Ich selbst bekomme viele Informationen über Whatsapp-Chats und Twitter, auch viele Videos die Polizeigewalt zeigen. Als Autor der linken Website Klasse Gegen Klasse habe ich auch einen längeren Artikel zur Situation veröffentlicht und plane, weitere für andere linke Websites und Zeitungen zu schreiben.

M: Deine Eltern sind Ecuadorianer. Du bist in Deutschland und Ecuador aufgewachsen und studierst aktuell in Berlin. Was motiviert dich ganz persönlich, dich in diesen Tagen auch von hier aus für die Anliegen der sozialen Bewegungen in Ecuador einzusetzen?

A: Es ist nicht leicht, in dieser Situation aktiv zu sein. Vor ein paar Tagen beispielsweise schrieb mein Cousin, dass das Militär auf der Straße sei. Später erhielten wir eine Sprachnachricht von einem Freund, der in Quito auf der Demo war und uns sagte:

„Bitte verbreitet die Informationen in Deutschland, wir werden hier umgebracht!“

In dem Moment habe ich mich wie gelähmt gefühlt, weil wir hier so weit weg sind. Am gleichen Tag starben fünf Personen bei den Protesten. Er war glücklicherweise keiner von ihnen. Zum Glück habe ich aber Genoss*innen, die mich unterstützen. Uns ist klar, dass aufgeben nichts bringt und dass die internationale Solidarität eine Tradition ist, die wir aufrecht erhalten und wiederbeleben müssen, um eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu erreichen. Persönlich ist der Kampf in Ecuador für mich wichtig, weil eine Niederlage erst einmal schlechtere Lebensbedingungen für meine Familie dort bedeutet. Das lässt sich aber nicht von der politischen Dimension trennen: ein Sieg der Demonstrationen würde für den IWF und den US-Imperialismus einen großen Rückschritt bedeuten, in ihrem Versuch, Lateinamerika weiter auszubeuten.

Bilder: privat


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