Vom „Sommer der Wilkommenskultur“ zum „Sommer der Abschiebekultur“: Neben verschärften Grenzen und Asylgesetzen und Massenabschiebungen infolge des deutschen politischen Umlenkungsprozesses innerhalb der sogenannten „Flüchtlingskrise“ schwindet auch das bürgerschaftliche Engagement für unsere geflüchteten Mitmenschen. Wachsende Skepsis und Überdruss bestimmen den gesellschaftlichen Diskurs – von tiefsinniger Solidarität konnte wohl nie die Rede sein.

Herbst 2015: Ganz stolz und aufgeregt ging ich auf die Jungs vor dem Gebäude des Deutsch- und Nachhilfetreffs zu, bei dem ich ehrenamtlich als sog. „Flüchtlingshelferin“ aktiv war. Ich war überzeugt davon, dass ich mit meinem Halbwissen über Afghanistan aus belauschten Unterhaltungen, Tagesschau und einem überflogenem Wikipedia-Eintrag bei ihnen punkten und ein cooles Gespräch führen könnte (schon allein die Tatsache, dass ich die beiden Wörter „cool“ und „Gespräch“ im gleichen Satz benutze, zeigt meine aufgezwungenen Gedankengänge).

Die Jungs, fast ausschließlich Geflüchtete aus Afghanistan, verbrachten nach dem Ende des Treffs ihre Freizeit oft Kette rauchend, während sie geduldig auf Bus und Bahn warteten. Danach fuhren sie in die Stadt und trafen sich besonders gern vorm Shopping-Center, welches ausgerüstet mit obligatorischem Shopping-Center WLAN als Anlaufstelle zum Streamen und Downloaden von Hollywood-Filmen mit chinesischen Untertiteln genutzt wurde. Stundenlang wartend verbrachten sie auch ihre Zeit in Ämtern und klinisch toten Wartezimmern, in denen sie von unfreundlichen und überforderten Büromenschen zwar eben nicht empfangen und betreut, dafür aber toleriert wurden – und ich rede von AfD-Toleranz.

„Wieso nennst du sie nicht einfach ‚Flüchtlinge‘ mensch, ist doch politisch totaaal legitim?!“, musste ich mir schon des Öfteren anhören. „Tja, Leute aufgrund von existenzieller Armut abzuschieben und trotzdem Dumpinglöhne zu schaffen und zu fördern ist auch politisch legitim… du Sack!“ entgegnete ich des Öfteren. Nein, ich hasse das Wort ‚Flüchtling‘, denn es klingt wie Winzling oder Säugling. Und nochmal nein, das waren keine hilfsbedürftigen Säuglinge, mit denen ich wöchentlich zusammensaß. Das waren zum größten Teil ausgewachsene Männer mit starkem Haarwuchspegel, die sich nicht immer supi darüber freuten, wenn sie von Hinz und Kunzine zu einem witzigen Brettspieleabend mit deutschen kulinarischen Leckerbissen wie Kartoffelsalat und Salzstangen eingeladen wurden.

Nach einigen Wochen voller Smalltalk, gefühlt 42 000 Facebook-Anfragen und befremdlichen Chats erkannte ich, dass es zwischen den Teilnehmer*innen ethnische, sprachliche und religiöse Unterschiede gab. Da gab es zum Beispiel Mr. Meggesbraue, der eigentlich ganz anders hieß, aber so hinter seinem Rücken unter den Ehrenamtlichen genannt wurde. Er erzählte mir ganz stolz, dass er Literatur in Kabul studierte und Alice im Wunderland für die überschätzte Fantasie eines Pädophilen hielt (ihr wollt nicht wissen, was er über „Harry Potter“ dachte). Genauso indiskret und ganz beiläufig erwähnte er seine ethnisch-paschtunische Abstammung sowie seinen „richtigen“, weil sunnitisch-islamischen Glauben. Er lachte recht grell und jedes Mal, wenn neue Ehrenamtliche das Wort „Krieg“ oder „Taliban“ galant in die Runde klatschten, lachte er noch lauter und greller. Komischerweise wurde er ganz ernst, wenn ihn der sympathische Mitvierziger und Deathmetal-Hobbysänger Thorsten ab und zu auf einen Burger und Fritten zum Megges einladen wollte. Sein Spitzname war wohl doch nicht komplett an ihm vorbeigegangen.

Die Jungs vor dem Gebäude schienen also irgendwie anders zu sein. In der Rauchwolke angekommen fragte ich also Luft schnappend und neunmalklug, ob man denn von der usbekischen oder tadschikischen Grenze kommen würde. Nach sekundenlangen, auf mich gerichteten verwirrten Blicken wurde ich dann herzlich ausgelacht.

Auch A2 zum Quadrat brach in schallendes Gelächter aus, wobei er normalerweise zu der ruhigeren Sorte Mensch gehörte. Sein Spitzname unter den Ehrenamtlichen resultierte daraus, dass er selbst nach einem Jahr intensiven Lernens den A2-Deutschtest aufs Erbrechen nicht bestehen konnte. Erst nach dem vierten gescheiterten A2-Test wurde klar, dass A2 zum Quadrat nicht nur ein scheinbar hoffnungsloser Analphabet, sondern tatsächlich Legastheniker war und spezielle Lernförderung benötigte. In dem afghanischen Provinzdorf, aus dem er kam, konnten vom Staat aus nur die nötigsten Mittel zur Grundschulbildung aufgeboten werden. Auch in diesen ersten und einzigen Schuljahren hatte er die gleichen Probleme und wurde schlicht und ergreifend als dumm gelabelt und sogar im ach so aufgeklärten Deutschland blieben ihm derartige Vorurteile nicht erspart.
Umso lustiger war es, wenn er versuchte, mit mir über Messenger per Copy and Paste zu flirten und dabei klang wie eine Mischung aus Google Translator und Tinder.

Tatsächlich dauerte das Gelächter der Gruppe ganze 2 Minuten, die mir unendlich lang erschienen und unendlich peinlich waren. „Wir sind Hazara, Janem“, sagte ER auf Englisch wie ein Machtwort, dass das Gelächter abrupt beendete. Bevor ich nachfragen konnte und gleichzeitig vor Scham über mein grandioses Unwissen in den Erdboden versinken wollte, klärte er mich auf. Die Hazara waren demnach eine der größten Ethnien Afghanistans. Sie sprachen Hazaragi, einen persischen Dialekt und ihr Erscheinungsbild war meistens mongolisch anmutend, wobei er grinsend auf seine schmalen Augen zeigte.

Nicht selten wurde er in der Bahn von allzu dreisten Mitfahrern gefragt, wo das nächste China-Restaurant wäre. Zu oft fragten ihn enthusiastische chinesische Touristen nach dem Weg zum Hauptbahnhof. Er entgegnete allen mit dem einzigen Chinesisch, dass er konnte: „Schönes Leben noch.“
Er und die Jungs waren schiitische Muslime und teilten das Schicksal von der afghanischen Majorität diskriminiert, von radikalislamistischen Terrormilizen verfolgt, auf offener Straße massakriert und letztendlich vertrieben zu werden. Doch diese steckbriefartigen Informationen waren nur der Motor für ihre und natürlich seine eigene Geschichte.

Von Tag eins an nannte er mich statt Cansev „Janem“, was auf Dari „mein Schatz“ hieß und ich anfangs doch recht nervig fand, aber mich schnell und gerne daran gewöhnte. Denn von Tag eins an war er mir sympathisch und mit jedem Sonntagnachmittag wuchsen meine Sympathie und Neugier an ihm.
Er zog sich ausschließlich schwarz an, da er wenigstens den einzigen Vorteil ausschöpfen wollte, nicht mehr mit seiner Familie zusammen leben zu können: von seiner Mutter wie ein „Muttersöhnchen“ angezogen zu werden. Er genoss unter den Jungs wie auch unter den Ehrenamtlichen ein hohes Ansehen aufgrund seiner besonnenen, aber auch eigenwillig selbstbewussten Art und Weise die Dinge anzugehen. Selbst Mr. Meggesbraue übertrumpfte er mit seinen Englischkenntnissen, die er sich in der Schule nach seiner ersten Flucht in Pakistan aneignete.

Fast schon lakonisch verabschiedete ich mich von den Jungs, sah flüchtig doch schuldig in seine leuchtenden Augen und nahm die nächste Straßenbahn.

Dies war einer meiner letzten Sonntagnachmittage als sog. Flüchtlingshelferin. Hals über Kopf wollte ich dem trüben Chaos meiner Selbstfindung entfliehen, dass mich letztendlich einholte. Meine Lebensrealität schien im Verhältnis zu ihrer so viel stabiler, privilegierter. Aus Ehrenamtlichen wurden plötzlich „Gutmenschen“ und „Verfechter der Menschlichkeit“. Wie falsch und narzisstisch es ist zu denken, dass Geflüchtete, Geduldete, Asylsuchende und –bewerber*innen – einfach Menschen, so divers und vollkommen verschieden voneinander, auf uns und unsere Hilfe angewiesen wären. Denn auch meine Solidarität, mein Interesse fußte unbewusst auf genau dem Fundament, aufgrund meiner Herkunft, Sprache und Kultur besser und mächtiger zu sein als sie.

Ich hörte lange nichts mehr von den Jungs. Nur das eine Mal sah ich Thorsten, der zusammen mit Mr. Meggesbraue lachend aus einem helal Burgerladen herauskam und sie danach besonnen in tiefsinniger Solidarität ihre Wege gingen.

Epilog:

Im Rausche der Vergänglichkeit teilten sie mit mir ihre Herkunft und Narrative. Wir überbrückten die Kollektive, Sprache und Kultur in kurzweiligen Momenten, umgeben von Zigarettenrauch, Empathie und gegenseitiger Zugänglichkeit.

Vergänglich ist die schützende Rauchschwade, vergänglich der Moment der Flucht, doch unendlich das Leid, fortwährend der eigenen Existenz zuwider verzerrt und verklärt zu werden. Die Freiheit zur eigenen Entfaltung wird verweigert, zugunsten des eigenen Überlebens an den Meistbietenden versteigert.

Nun bestimmt das Fremde, das Unfassbare wieder eins ihre Identitäten infolge von Machenschaften, Machtenteignung, manifestierter Ausbeutung und Zerstörung. Diffamiert, degradiert und kriminalisiert zu Menschen zweiter Klasse werden sie schlussendlich zur abgeschobenen Masse.

Bild: duncan c CC